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Exposé zum Romanmanuskript „Inneres Wachstum“

In der Werkstoffprüfung gibt es das Phänomen, dass sich Materialungänzen wie Poren, mikroskopisch kleine Einschlüsse oder Mikrorisse unter Belastung zu vergrößern beginnen, bis die kritische Dimension erreicht wird, bei der es zur Zerstörung des Bauteils kommt. Diese Form des „inneren Wachstums“ ist im vorliegenden Fall des ICE-Unglücks vor den Toren Berlins eingetreten: Winzige Fremdkörper im Stahl einer Wagonachse, im Fachjargon Radsatzwelle genannt, haben sich während der Hochgeschwindigkeitsfahrt unbemerkt zu Rissen ausgebildet, die kurz vor dem Bahnhof Spandau zum schlagartigen Bruch der Achse und damit zur Entgleisung des Zugs führen.

Der Zufall will es, dass Rüdiger Ristau, Abteilungsleiter und Experte für die zerstörungsfreie Prüfung von Bahnkomponenten am Dahlemer Materialprüfungsinstitut, unter den Reisenden ist. Er befindet sich auf dem Rückweg von einer Fachtagung, als sein Flirt mit einer attraktiven Dresdner Kollegin durch den Unfall ein jähes Ende nimmt.
Als Georg Büchner, freiberuflicher Elektronik-Entwicklungsingenieur aus Kleinmachnow bei Berlin, von dem Unglück hört, glaubt er, schuldig zu sein. Ein von ihm entwickeltes Prüfsystem sollte zur Inspektion von Bahnkomponenten eingesetzt werden, arbeitete aber nicht störungsfrei. Berufliche Überlastung und die Querelen mit seinem pubertierenden Sohn haben verhindert, dass der Entwicklungsfehler, eine stochastische auftretende Dysfunktion in der Steuerungselektronik, behoben werden konnte. Nun ist er überzeugt, dass dieser Fehler zu falschen Prüfbefunden und damit zu der Havarie mit mehreren Schwerverletzten geführt hat.
Seine zusätzlich durch eine Trennung zugespitzte Lebenssituation gerät aus der Balance. Eine Irrfahrt durch Brandenburg führt ihn nach Himmelpfort, wo er den Freitod beschließt. In der Idylle des Stolpsees, umgeben von rauschendem Schilf und friedlich paddelnden Enten und Schwänen, nimmt er jedoch wieder von seinem Vorhaben Abstand. Den bereits verfassten Abschiedsbrief in den Händen schläft er in der Bucht, wo er sich in seiner Selbsttötungsabsicht niedergelassen hat, erschöpft ein.
So findet ihn Peggy Nowakowski, eine ehemalige Marathonschwimmerin, bei ihrer Morgenrunde vor, die sie täglichen über den See absolviert. Tief gerührt von den in großer Aufgelöstheit verfassten Abschiedsworten nimmt sie den Verzweifelten bei sich auf. Gemeinsam besuchen sie den schwer verletzten Dr. Ristau in der Berliner Charité. Mit Hilfe der beiden begreift Büchner schließlich, dass seine Panik grundlos war, weil das von ihm entwickelte Prüfsystem gar nicht zum Einsatz gekommen war und sein Fehler deshalb keinerlei Auswirkungen hatte.
Geläutert vom Schock der Ereignisse findet er seine Lebensbalance wieder. Er versöhnt sich mit seinen Eltern, die seine Berufswahl von Anfang an missbilligt hatten und ihn stattdessen lieber auf einem geisteswissenschaftlichen Weg gesehen hätten. Er beginnt, sein geschichtswissenschaftliches Hobby mit seinem Beruf zu verbinden und widmet sich der Erforschung der Technikgeschichte Berlins.
Auch für Rüdiger Ristau bricht ein neuer Lebensabschnitt an. Er lässt sich scheiden und geht eine Verbindung mit seiner Dresdner Kollegin ein, sie gelten als das neue Traumpaar der Zunft. Frucht ihrer Zusammenarbeit ist eine verbesserte Prüftechnik für Eisenbahnradsatzwellen, mit der den Gefahren von Materialschädigungen besser vorgebeugt werden kann.

Der Text erlaubt einen intimen Blick in die Welt der Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker. Deren Tätigkeit zwar unser Leben in einem hohen Maße bestimmt, aber – insbesondere seit dem Siegeszug der Digitaltechnik - aufgrund des Spezialistentums der Protagonisten weitgehend im Verborgenen bleibt. Auf deren Schultern allerdings, wie die Geschichte zu erzählen weiß, eine hohe Verantwortung lastet.
 

© Gottfried Schenk 2013