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Versuch
einer kritischen Auseinandersetzung mit der Situation im Berlin der Nachwendezeit, unter Betonung von aktuellen, zeitgeistspezifischen Aspekten - in brieflicher Form an M.P., zur Zeit in Paris, geschrieben in Berlin, Januar 93:

Neujahr 1993

Liebe M...,

nun sind tatsächlich schon ein paar Wochen vergangen, seit ich Deinen Brief erhalten habe, und leider komme ich jetzt erst dazu, Dir zu antworten. Aber das möchte ich nun um so ausführlicher tun - mit all dem Gewinn an Bedachtsamkeit und Distanz zu den Ereignissen, wie sie durch den zeitlichen Abstand möglich geworden sind. Ich mußte ja viel über Deine Worte nachdenken, habe mir dabei auch immer wieder vorgestellt, wie es Dir wohl unter den jetzigen Umständen hier in Berlin ergehen würde. Denn einige Deiner Vermutungen treffen ja ziemlich genau ins Schwarze. Es denken nicht wenige der "alteingesessenen" West-Berliner, besonders Intellektuelle und Künstler, darüber nach, die Stadt zu verlassen, und manche haben dies sogar bereits getan. Sie kommen mit der neuen Situation nicht zurecht, wie sie sich durch den abrupten Wechsel von der abgeschiedenen, überschaubaren Inselsituation zum  Einfallstor und Tummelplatz für Hunderttausende von freiheitsbedürftigen und konsumhungrigen Menschen aus der DDR so plötzlich über Nacht eingestellt hat.
Zuerst einmal aber hat es mich sehr gefreut zu hören, daß es Dir gut geht und Deine Arbeiten zufriedenstellend vorankommen. Wie war denn die Resonanz auf Deine Ausstellung? Konntest Du etwas verkaufen? Leider war Deinen Zeilen diesbezüglich nichts Genaueres zu entnehmen. Was mein eigenes Weiterkommen betrifft, so habe ich im letzten Jahr zwar ein interessantes Schreibvorhaben angefangen und bis zu einem gewissen Grade realisieren können, doch kann bislang von einem Abschluß noch keine Rede sein. Aber Du weißt ja, wie langsam bei mir alles geht - schon allein wegen der Zeit-Problematik bedingt durch meine feste Angestelltentätigkeit. Das Dumme ist nur, daß ich wegen der Verzögerung ein weiteres, ebenfalls schon ins Auge gefaßtes literarisches Projekt zum Thema Geschlechterverhältnis, das mich sehr reizt, weiter aufschieben muß. Daß ich mit meinem ersten Manuskript bei mehreren Verlagen abgeblitzt bin, hatte ich Dir, glaube ich, seinerzeit bereits am Telefon gesagt. Das war für einen Anfänger wie mich schon ein heftiger Dämpfer, und Du kannst Dir vorstellen, daß es mich nicht gerade beflügelt hat - aber mein Optimismus reicht noch für ein Weitermachen.
Die gesellschaftliche und kulturelle Situation in der Stadt, nach der Du Dich erkundigst, ist zur Zeit wirklich ziemlich vertrackt. Die große Ernüchterung nach der Wiedervereinigungs-Euphorie hat inzwischen ja längst eingesetzt - als Folge der großen Belastungen, denen vor allem die Menschen im Osten ausgesetzt sind - , doch scheint es dort ein fast unerschöpfliches Potential an Ausdauer und Geduld zu geben,  verbunden mit der - im Westen ja schon ziemlich abhanden gekommenen - Fähigkeit, Beschränkungen auszuhalten. Wenn man wie ich direkt im Zentrum des Geschehens lebt, kann man sich ja gar nicht vorstellen, daß bei Dir in Paris davon nicht viel zu merken ist. Ich möchte aber sagen, daß, trotz aller Unsicherheiten und Herausforderungen, die die neue Situation mit sich bringt, bei mir die Freude überwiegt, als Zeit- und Augenzeuge dabei zu sein. Das bewegende Gefühl, einfach nach Potsdam, in die Märkische Schweiz, an einen der idyllischen Seen in die Schorfheide fahren zu können, oder interessante Begegnungen in Ost-Berlin zu erleben, kann so manchen Ärger über die überfüllte Stadt und die neue Hektik aufwiegen. Ja, aber manchmal werde ich dann doch ein wenig nostalgisch, denke zurück an die alten Mauerzeiten, wo hier noch alles überschaubar war und wir ganz unter uns sein konnten... 

Den Sylvester-Abend habe ich diesmal nicht wie sonst in den vergangenen Jahren auf einer privaten Party verbracht, sondern bei einer kulturellen Veranstaltung. Und zwar im „BKA“ in Kreuzberg, eine Einrichtung, die ausgeschrieben Berliner Kabarett Anstalt heißt und nichts mit dem Bundeskriminalamt zu tun hat. Unter dem Motto: Ein Ausrutscher ins Neue Jahr gab es dort ein mehrteiliges Kabarett-Programm, in das wir von einem in Maßen witzigen, schwulen Moderator (Ades Zabel, falls Du ihn kennen solltest) eingeführt wurden. Anschließend, und das war dann bereits nach Mitternacht, wurde ein Riesenbüfett eröffnet, dem schließlich Live-Tanz-Musik bis in den frühen Morgen folgte. Um dabei gleich auf Deine Frage nach den hiesigen Veränderungen zurückzukommen, kann ich sagen, an dem Abend - im kleinen, aber beinahe exemplarisch - einiges von dem, was meine Eindrücke über das veränderte und unveränderte Deutschland sind, vorgefunden zu haben. Da es ja ein Fest war, ist mir, wie schon zu anderen, historisch bedeutsameren Anlässen, die Art zu feiern aufgefallen. Allein die Programmauswahl war bezeichnend. Um nicht allzusehr ins Leichte, Unbeschwerte, Närrisch-feiernde abzuheben, wurde mit Bettina Hirschberg, einer respektablen, aber doch eher selbstanklagend-moralisierenden Interpretin eine Künstlerin aufgeboten, die einem - wenn man sich auf ihren Vortrag einließ - durchaus die Neujahrs-Feierstimmung auszutreiben vermochte (wo doch der graue November mit seinen Buß- und Bet-Tagen endlich hinter uns liegt!). Zum Glück trat nach ihr noch das italienische  Pantomimen-Duo Pendolari dell‘Essere auf, das mit seinem einfachen und doch sehr intelligenten Vortrag da wieder einiges gutzumachen verstand.
Bezeichnend fand ich, wie das Publikum auf die unerwartet ernste Darbietung reagierte. Während der größte Teil sich in das "Geschick"  fügte, mit dem Feiern noch ein bißchen warten zu müssen und sogar eifrig applaudierte, äußerte eine kleine Gruppe jüngerer Feiergäste, die durch ihren Akzent zweifelsfrei als Westdeutsche zu erkennen waren, ihren Unmut mit lauten Zwischenrufen, indem sie z.B. ultimativ die Eröffnung des Büfetts forderten. Sie mußten sich ohnehin aus Unkenntnis über den Ort dort eingefunden haben, denn ihr Bedürfnis schien insgesamt mehr in Richtung lärmend-polternder Vergnüglichkeiten zu gehen. So bombardierten sie andere Gäste, die wie ich das Pech hatten, in ihrer Reichweite zu sitzen, mit Konfetti und Girlanden, unterhielten sich während der Auftritte demonstrativ-lautstark über ihren Hunger und was sie ja bezahlt hätten, und versuchten auf die möglichst direkte Art und Weise Kontakte zu knüpfen und Verbrüderungen zu inszenieren. Es war für mich der Typ Deutsche, die sich am wohlsten fühlen, wenn sie - unter Gleichgestimmten natürlich - die "Sau rauslassen" und, nach dem entsprechenden Besäufnis, zum beschwingenden Schunkeln übergehen können. Aber das ist halt nicht jedermanns Sache (und mir bestens bekannt von früher, von den heimatlichen Gäste-Tirolerabenden). Da die guten Leute dann doch nicht voll auf ihre Kosten kamen, ließen sie zuletzt ihren Unmut mit Schmähungen aller Art freien Lauf.
Da ich, wie schon erwähnt, diese Art deutscher "Fröhlichkeit" schon seit meiner Kindheit kenne, meine ich, jetzt das Neue in der herabgesetzten Schwelle, sich ungeniert zu geben, zu erkennen. Mir erscheint ganz allgemein in diesem Land auf breitester Ebene eine Art Enthemmung im Gange zu sein. Wie wenn Politikern und Unternehmern plötzlich eine Raketenfeier zum 50.Jahrestag von Peenemünde opportun erscheint, auch wenn es sich um die Entwicklung von Todeswaffen handelte, an denen das Blut von KZ-Häftlingen klebte. Oder sich ein ungeschminkterer Antisemitismus breit macht (jüdische Persönlichkeiten berichten, daß man nun die Schmäh- und Drohbriefe nicht mehr anonym, sonder mit Angabe der vollen Adresse des Absenders abschickt) - von dem Ausländerhaß und den rechten Gewaltexzessen ganz zu schweigen! Überhaupt ist die Scham der Nachkriegszeit einem wuchtig auftretenden Gefühl, doch "in Ordnung", bzw. als Deutscher ganz "normal" zu sein, gewichen. Ich weiß noch gut, wie eine dänische Zeitung seinerzeit zur Maueröffnung kommentierte: "Wenn Deutschland jubiliert, dann zittert die Welt...". Zu Recht...? Und gerade weil Kritik jetzt immer häufiger als "linker Alarmismus" diffamiert wird, muß man Jürgen Habermas zustimmen, wenn er bezüglich einer deutschen nationalen Normalität von der "zweiten Lebenslüge der Bundesrepublik Deutschland" spricht.
In den 22 Jahren, die ich jetzt in Berlin lebe, haben sich die Verhältnisse ja ziemlich grundlegend verändert. Obwohl diese Entwicklung durch die Maueröffnung und die Wiedervereinigung eine neue Qualität bekam, hatte sie sich schon lange vorher - ich würde sagen, so seit Mitte der achtziger Jahre - bereits abgezeichnet. Als ich 1970 in Berlin ankam, fand ich eine offene, lebendige Stadt vor, in der - wie in den meisten westlichen Metropolen - eine kulturelle und gesellschaftliche Aufbruchsstimmung herrschte, von der große Teile der jüngeren Generation erfaßt waren. Mit großer Entschlossenheit und Radikalität wurde versucht, die alten bürgerlichen Konventionen, Moral- und Wertvorstellungen zu schleifen und eine - mir damals beinahe paradiesisch anmutende - Utopie des Miteinander zu verwirklichen. Dieser Aufbruch hat ja bekanntlich auch tatsächlich eine Reihe tiefgehender Veränderungen bewirkt.
Heute erscheinen sie mir allerdings - ohne den Geist von damals - wie die Pervertierung der ursprünglichen Ideen. Ja, ich neige sogar dazu, in den zu neuen - normativen. -  Verhaltensschablonen erstarrten Entwicklungen besonders schwer zu identifizierende repressive Strukturen zu erkennen. So wie die nach dem Motto: "Erlaubt ist, was Spaß macht" von allen traditionellen moralischen Fesseln befreite Auslebung libertiner Bedürfnisse nicht nur nach immer mehr Enttabuisierungen verlangt, um neue Reize empfinden zu können, sondern sie leistet auch einer menschlichen Gleichgültigkeit und Verrohung Vorschub, die letztendlich in eine verhängnisvolle Spirale von Gier und Gewalt  führt. Ich bin überzeugt, daß - wenn kein Wertesystem mehr Kraft zum Widerstand zu geben vermag - auf die Reizüberflutung und Anmache, der man ja ununterbrochen ausgesetzt ist, Übersättigung und Abstumpfung folgen, mit der Tendenz zur mehr oder weniger enthemmten Auslebung der angesprochenen Instinkte.
Meine Abneigung gegen die einseitige Ausrichtung auf Sexuelles beispielsweise ist schon dermaßen groß, daß mir - heute - eine "platonische" Form der Beziehung (zu einem mir durchaus erotisch sehr begehrenswert erscheinenden Menschen) um ein Vielfaches erstrebenswerter und "fortschrittlicher" erscheint als die schnelle Absolvierung der gängigen "Lust"-Rituale - Obwohl und gerade weil für mich die sexuelle Begegnung, wenn ich sie auf dem Boden von wirklicher Verbundenheit, also in Verbindung mit Liebe, erleben kann, zu dem Schönsten und Innigsten zählt, was ich kenne. Eine  bewußt praktizierte Zurückhaltung auf diesem Gebiet läßt jedenfalls noch die Möglichkeit offen, zu mehr zwischenmenschlichen Berührungspunkten zu kommen als den penis-vaginalen-analen-klitoralen Penetrationen und "gemeinsamen" Orgasmen. Ja, ich gehe sogar so weit, daß ich meine, in solch einer entseelten Form von sexueller Praktik eine der Ursachen für die um sich greifende Depersonalisierung und Primitivisierung im menschlichen Miteinander zu sehen.
Da könnte man zumindest meinen, daß - wenn schon die Massenmedien diesem Trend voll unterliegen und ihn kräftig weiter anheizen - wenigstens Kunst und Literatur mit aller Macht ihre Stimme erheben, um diese Verirrungen offenzulegen und Alternativen aufzuzeigen. Wo doch die Literatur immerhin noch mit dem Anspruch auftritt, Forum für die Leiden des Individuums zu sein (Reich-Ranicki), oder hochdotierte Kulturmanager vollmundig postulieren, daß "Kunst eine Art der Stellung von existentiellen Fragen in der Öffentlichkeit sei" (Jan Hoet). Wie weit beide derzeit von diesem Anspruch entfernt sind und, was die ökonomisch erfolgreichen Künstler und Autoren betrifft, offenbar auch sein müssen, ist schon aus den Marktmechanismen ersichtlich, denen Kunst und Literatur heute unterliegen. Bei Besuchen von Lesungen jüngerer Autoren wird mir auch immer wieder schmerzhaft deutlich, daß es für bestimmte Wirklichkeitsaspekte offensichtlich keine Sprache mehr gibt. Wo sind die Werthers, Josef K.‘s, Harry "Rabbits" der neuen deutschen Literatur geblieben? - Ausgemerzt zugunsten von Ewig-gut-drauf-sein-Typen und immerzu-saufenden-fickenden Helden? Zugetüncht unter der Hochglanzfolie einer aufgeblasenen, aber inhaltsleeren Sprache? Ersetzt durch  Protagonisten der aggressiven Wehleidigkeit, die nicht wahrhaben wollen, daß das Leben mehr ist als das selbstverständliche, bequeme Empfangen von Wohltaten? Wen wundert es da noch, daß es bald keinen Unterschied mehr zu bestimmten Fernsehserien oder Kinohits gibt und sich auf literarischem Gebiet gähnende Langeweile ausbreitet? Ich kann nicht umhin, diese Entwicklung auch in einem Zusammenhang damit zu sehen, daß Fähigkeit und Bereitschaft, Leidens- und Konfliktsituationen aushalten zu können, immer mehr abnehmen - wie in gleichem Maße die fatale Tendenz zunimmt, diese unter Einsatz von Gewalt "zur Sprache bringen" und lösen zu wollen.
Ja, und mein Eindruck ist leider auch, daß sich viele der bekannten Autoren dadurch hervortun, mehr Mitläufer und Vollstecker des gängigen Zeitgeistes zu sein als die Vollbringer eines authentischen Werkes, das vor der Zeit Bestand hat. Wie sehr selbst offiziell hochgeschätzte Schriftsteller dem Trend zur Anbiederung an den Massengeschmack unterliegen, mußte ich leider auch unlängst bei einem Besuch der Aufführung von Heiner Müllers "Mauser" im Deutschen Theater feststellen. In dem schon wegen der vielen Textanleihen ziemlich plagiatorisch wirkendem Stück mußte natürlich eine Nacktszene dabei sein, von den unzähligen - unpassenden - obszönen Gesten und Szenen (vom Autor selbst inszeniert) ganz zu schweigen. In einem Teil des Stückes, in dem auch Textfragmente aus Choderlod des Laclos "Gefährliche Liebschaften" eingebaut waren, stießen die oft plumpen und primitiv-anmacherischen Dialoge des Autors mit der so wunderbar verschlungenen, raffiniert andeutend um das eigentliche Sujet schweifenden höfischen Sprache des 18.Jahrhunderts grausam zusammen. Deutlicher und offensichtlicher hätte der Gegensatz nicht ausfallen können. Obwohl Heiner Müller als einer der bedeutendsten deutschen Dramatiker der Gegenwart gilt, hoffe ich wirklich nicht, daß so was die Zukunft des hiesigen Theaters sein wird. Ich war jedenfalls nicht der einzige, der in der Pause die Aufführung verließ und enttäuscht nach Hause ging.

So kann ich nicht umhin, im Berlin der beginnenden Neunziger Jahre - trotz des immensen Kulturangebots - nicht viel mehr als eine überdimensionale Konsum- und Unterhaltungsstätte zu sehen, wo die alte, von mir so sehr geschätzte Offenheit einem zunehmend aggressiven Klima zwischen krampfhaft sich abgrenzenden Gruppierungen gewichen ist (die sich in den meisten Fällen ohnehin nur durch einen unterschiedlich hedonistischen Lebensstil, verschiedene sexuelle Orientierungen oder einen vagen ideologischen Überbau unterscheiden). Nicht nur, daß ganz allgemein die alten "Werte" wie materielles Besitzstreben und die Ideologie des individuellen Erfolgs und Glücks wiedergekehrt sind, sondern die Veränderung geht zu allem Unglück auch mit einem latenten Antiintellektualismus einher, der nicht nur zu einer schlimmen Sprachlosigkeit geführt hat, sondern auch die Fähigkeit, gesellschaftliche Alternativen zu denken und umzusetzen, verkümmern ließ. Und wann waren Utopien so notwendig wie jetzt? 
Der Trend zur schnellebigen, auf die unmittelbare Gegenwart bezogenen Lebensweise wird noch durch die Verminderung der Fähigkeit zu einem inneren Erlebnis verstärkt, was - zusammen mit der massiven Präsenz der Unterhaltungsmedien - die Möglichkeiten einer Neubesinnung reduziert. Was mich dabei persönlich vielleicht am meisten betroffen macht, ist der allgemeine Trend zum "don't-worry-be-happy". Mein Eindruck ist ja, daß mit aller Konsequenz versucht wird, Unglück und Leid als eigentlich integrale Bestandteile des Lebens zu ignorieren und auszublenden. Ein Trend, der in dieser Form im Westen schon Mitte der achtziger Jahre einsetzte und mit einer Fülle von Heilslehren und den entsprechenden Kursangeboten, die allesamt vorgaben, den schnellst-möglichen und - so der Wille dazu da sei. - möglichen Weg zu Glück und Erfolg zu vermitteln, vor allem bei Leuten aus der linksalternativen Szene rasch Verbreitung fand (Art Reade- und EST-Seminare, Wild Goose Company etc., dann natürlich noch die Encounter-Trainings des großen Meisters aus Poona....).
Heute, wo sich Selbstverwirklichungsfixiertheit verbunden mit Ellbogenmentalität und Glücksrittertum wieder allgemeinerer Verbreitung erfreuen, zeigt sich, daß die - ehemalige - Linke auch bei der Revision ihrer alten Werte eine "Avantgardefunktion" innehatte. Wie schon die Namen besagen, hatten diese Angebote fast alle einen US-amerikanischen Ursprung. Während nun die amerikanische Kultur ja eine jahrhundertalte, schon durch die Verfassung festgelegte Tradition über die individuelle Machbarkeit von Glück besitzt (mit allen Verzerrungen, aber auch den dort üblichen Kompensationsmöglichkeiten), wird hierzulande, wo noch die jüngste Tradition individuelle Erlösung nur als kollektive - nationale oder sozialistische - vorsah, wieder einmal - mit dem hiesigen Drang zur Perfektion - ein fremdes Konzept in die eigene Lebensart übernommen. Ich habe selbst Leute erlebt, die sich nach den genannten Kursen Parolen in ihrem Zimmer an die Wand pinnten, worauf Leitsätze wie "nie wieder traurig- , niedergeschlagen-, unglücklich-sein zu wollen" zu lesen waren. (Ja, ich kann hierbei wirklich aus berufenem Munde sprechen, da ich vor zehn Jahren einmal selbst einige dieser Kurse mitgemacht habe und der ja auf den ersten Blick so verführerischen Botschaft auf den Leim gegangen bin - bevor ich mit dem Philosophiestudium und den Schreibversuchen in Richtung einer radikal-selbstreflexiven Lyrik dann den ganz anderen Weg einschlug.)
Meine Erkenntnis war dann bald, daß es nur mit einer entsprechenden Verhärtung und der gnadenlosen Abwehr von Schwächegefühlen gelingen konnte, diesen Vorsatz auf Dauer in die Tat umzusetzen. Denn das Leben lehrte mir immer wieder auf das Nachdrücklichste, daß es nicht möglich ist, all die "negativen" Phänomene wie Leid, Traurigkeit, Unglück, Krankheit, Tod usw. aus dem menschlichen Dasein wirklich zu verbannen - sie gehören untrennbar dazu. Und es ist ja gerade ein Anzeichen von wirklicher Stärke und einer in sich ruhenden, autonomen Persönlichkeit, wenn in Einklang mit ihnen - und nicht gegen sie - gelebt werden kann. Aber um sich trotzdem in der vorhin beschriebenen Weise verwirklichen zu können, bedarf es allerhand Verbiegungen - und der Entwicklung einer "Dialektik", bei der das - vorzeigbare - glückliche, heitere, erfolgreiche, attraktive Ich als "These", gleich einer schönen Fassade, im Vordergrund steht, während die  - nicht vorzeigbaren - Schattenseiten als "Antithese" abgedrängt im Verborgenen blühen. Keine Frage natürlich, daß sich unter diesen Umständen eine "Synthese", der für den inneren Einklang notwendige Ausgleich zwischen Selbstbehauptung in der äußeren Realität und dem Verbundensein mit der eigenen, inneren Wirklichkeit, gar nicht oder nur unzureichend einstellen kann. Selbst die massenhaft in Anspruch genommenen Psychotherapien helfen dann nicht viel, weil sie unter diesen Umständen vorrangig die Funktion der Feuerwehr oder des Mülleimers übernehmen müssen.
Und gerade in dieser mentalen Ausrichtung erkenne ich die größte Differenz, die jetzt zwischen West- und Ostdeutschland herrscht. Sie stellt den wohl entscheidensten Hindernisgrund für eine menschliche und kulturelle Wiedervereinigung dar. Denn die Menschen in der ehemaligen DDR haben es - als 40-jährige Überlebensstrategie in einem offen repressiven System - lernen müssen, Beschränkungen bis hin zu den elementarsten Alltagsdingen als kollektives Schicksal auszuhalten und als integralen Bestandteil ihrer Existenz zu begreifen. Dies ging zwar einher mit einem Defizit an Optimismus und der Fähigkeit zur individuellen Selbstbehauptung und -verwirklichung, doch sind dort, vielleicht auch als positives Ergebnis der ehemals sozialistischen Gesellschaft, bestimmte menschliche Werte eben noch weiter verbreitet als im Westen. Die amerikanische Journalistin Bellinda Cooper schrieb hierzu in der ZEIT unter dem Titel: "Die Ossis sind mir lieber", von einer Offenheit und Freundlichkeit, "die nach der westdeutschen Kälte wie eine Erlösung wirkte". Kein Wunder also, daß - im Großen wie im Kleinen - der solcherart disponierte Westmensch als "Besser-Wessi" und gieriger Raffke in dieses sich ihm anfangs noch voller Gutgläubigkeit und Naivität ausliefernde Terrain einbrach, und dort inzwischen mehr als fremder Kolonisator als als "Bruder und Schwester" empfunden wird.

Nun aber wieder zurück zur Sylvesternacht. Sie war insgesamt, trotz allem, sehr unterhaltsam und abwechslungsreich, weil das Gros der Leute in Ordnung war und auch das Programm Niveau hatte (das Büfett leider weniger). Besonders die Rock-Band, die ab ein Uhr spielte, hat uns richtig eingeheizt und ausgiebig zum Tanzen gebracht. Was mir aber  - quasi als Bestätigung meiner vorigen Ausführungen - auffiel, sind die Distanz und die Unbeweglichkeit der Einzelnen, aufeinander zuzugehen. Es gab Paare oder Gruppen, die sich kannten und unterhielten, aber darüber hinaus passierte nicht viel  (- ja, wenn ich an die Siebziger denke, wie kommunikativ man/frau da noch war......). Man macht sich schön, kleidet sich attraktiv, gibt sich möglichst vorteilhaft - und cool und unnahbar. Paare scheuen Bekanntschaften, denn es könnte ja gefährlich werden, Singles interessieren sich nur unter der Prämisse: endlich der Traumtyp?, Schwule, ob es ein möglicher Sexpartner ist usw. Materialistisches Denken und die ungeschminkte Instrumentalisierung des Anderen als Vehikel zur eigenen Entfaltung haben die zwischenmenschlichen Beziehungen bereits voll durchsetzt.
Und man weiß offenbar auch nicht, außerhalb des gängigen Verhaltenshorizonts miteinander etwas anzufangen. Und das Schlimmste ist, daß ich davon längst infiziert bin, selbst meinen ersten, unmittelbaren Impuls, unbefangen auf jemanden zugehen zu wollen, abbremse, innehalte, mißtrauisch werde, überlege....na, wer weiß...? Daß es einfach Spaß machen, spannend sein kann und einen weiterbringt, sich kennenzulernen und auszutauschen, scheint vergessen worden zu sein. Eine Gruppe junger Franzosen, die ich in der Nacht beobachten konnte, hat mir zu meiner Erleichterung gezeigt, daß dies nicht durchgängig so ist bzw. vielleicht eher ein spezifisch deutsches Problem sein könnte. Was war das für ein Genuß, ihnen zuzuschauen - wie sie sich bewegten, spielerisch miteinander umgingen, allein oder zusammen tanzten. Doch sie blieben damit leider unter sich.
Nun gehe ich nicht gleich davon aus, daß es die besagten Vereinzelungs- und Sprachlosigkeitsphänome in den anderen westlichen Ländern nicht auch gibt. Doch erscheint mir - wie schon erwähnt - die deutsche Mentalität in Verbindung mit so einem Zeitgeist eine besonders fatale Mischung abzugeben. Unvergessen bleiben mir da die Bilder von den promenierenden Menschenmassen auf dem Kurfürstendamm in den Tagen nach der Maueröffnung, als Tausende aneinander vorbeiliefen, staunend, fassungs-, aber auch regungslos. Warum fällt es den Leuten hierzulande so schwer, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, sie zu zeigen oder gar spontan mit anderen zu teilen? Geht dies nur organisiert und zeitlich terminiert wie in Karnevalszeiten...oder im engen, vertrauten Gruppenmilieu, unter massiver Nachhilfe von Alkohol oder anderen Enthemmungsmitteln?

So ein Klima, mit so wenig Wärme und wirklicher Offenheit füreinander (die modische Lockerheit a´ la Thomas Gottschalk macht das Problem ja eher noch schlimmer), bekümmert mich schon sehr, ja immer wieder. Manchmal denke ich, daß es ein beinahe masochistischer Zug von mir sein muß, in diesem Land, in der Stadt zu leben - bei meinen Dispositionen! Aber es ist die Freiheit, die hier eine lange Tradition hat, und eine radikale Art von Ehrlichkeit der Menschen, was mich hier hält. Auch wenn ich mich beklage, unvergessen bleibt mir das erstickend-harmoniesüchtige Klima Österreichs, in dem jede Art von Kritik und Außenseitertum verniedlicht, ja bis zum Operettenklamauk herunterstilisiert wurde ("Der Alpenkönig und der Menschenfeind" usw.). Hier erfriert man zwar seelisch, aber dieses Leiden erzwingt geradezu das Reflektieren und das künstlerisch-kreative Umsetzen seiner Gedanken und Empfindungen darüber - angeregt von einer großartigen Geistestradition. Und wie nirgendwo sonst werden Experimente ausgelebt, wird Gedachtes so radikal in die Tat umgesetzt (was manchmal allerdings auch bis zu "Endlösungen" führt).
Schrammen habe ich mir hier in der Stadt ja bereits unzählige zugezogen, doch die Wunden, die dabei aufrissen, sind größtenteils schon mitgebracht. So kann ich mein Resümee ziehen, daß ich diese Stadt liebe, auf meine eigene, ambivalente Art. Für den geistig-kreativen Menschen in mir ist es der  Ort, um sein zu können und zu werden, für den emotionalen Teil von mir ist es allerdings ein mittleres Desaster (aber ein aushaltbares). Als Ort für Utopien hat Berlin seit der Vereinigung allerdings verloren. Die Inselstadt, die zwei Jahrzehnte staatlich subventionierte Spielwiese für Außenseiter und Träumer aller Art war, existiert heute nicht mehr; und anstatt der erhofften Impulse aus dem Osten fand bislang lediglich ein einseitiger Transport der von mir schon angeprangerten, einer metaphysischen Dimension entbundenen und deshalb als nivellierend und lähmend empfundenen westlichen Lebensart statt, auf die viel zu sehr mit vorauseilender Anpassung oder Apathie reagiert wurde und wird.
Abzuwarten bleibt, ob es trotzdem eine Entwicklung zu der brodelnden Metropole geben wird, wie Berlin sie in den Zwanziger Jahren war - mit all den Nährböden für Neues in intellektueller und künstlerischer Hinsicht. Die eine Voraussetzung, Vereinigungsort von verschiedenen kulturellen Traditionen zu sein, ist seit der Öffnung der Grenzen zum Osten ja wieder gegeben. Ob allerdings die in der Stadt vorhandene menschliche Basis dazu ausreicht, sehe ich eher mit Skepsis. Dazu ist für mein Empfinden seit dem Niedergang der 68er-Bewegung zuviel an unruhig-kreativem Potential verschüttet oder aufgesogen worden (oder es hat sich entintellektualisiert und brutalisiert wie die linke Autonomenszene).
Und entscheidend Neues ist mit den Generationen danach nicht nachgewachsen. Inwieweit im Zeitalter einer ausufernden audio-visuellen Medien"kultur" die Emanzipation einer eigenständigen Generation überhaupt noch möglich ist, bleibt für mich ohnehin fraglich. Der neue Rechtsradikalismus, der in meinen Augen ja mit der ersten authentischen Jugendkulturbewegung seit den Siebziger Jahren einhergeht, bestärkt mich da auch in meiner Skepsis. Denn wenn man an Tabus rütteln muß, die die Grundlage der humanen zivilisierten Gesellschaft überhaupt darstellen, um sich entscheidend abgrenzen und emanzipieren zu können, dann stimmt etwas mit der Erneuerungsfähigkeit dieser Kultur nicht. Der Schock, den mir die Bilder von Molotowcocktail-werfenden jugendlichen Randalierern und johlenden und applaudierenden Zuschauern vor brennenden Asylantenwohnheimen und die nicht enden wollenden Greuelberichte über Skinheads, die wehrlos am Boden Liegende zu Tode treten und prügeln, versetzt haben, ist jedenfalls noch lange nicht überwunden. Aber noch sitzen zu viele der ehemals unruhigen Geister in den entscheidenden Sesseln, perpetuieren die Leitsätze von gestern, und haben es sich bequem eingerichtet - und denken nicht daran, neue Anstöße aufzunehmen oder Entwicklungen zuzulassen. Lieber hat man an den eigenen Vorteil im Hinterkopf, pflegt das private Ego und einen ausufernden Narzißmus, und mischt im Spiel um Lust und Macht fleißig mit - man/frau lebt ja schließlich nur einmal..
Ich tendiere deshalb dazu, es als ein Charakteristikum der derzeitigen kulturellen Situation anzusehen, wie sich hinter einer grandios auftretenden, ästhetisch aufreizenden Fassade ein geradezu schon beängstigender geistiger Stillstand eingenistet hat. Überall sind großspurige Macher und selbstgefällige Sachverwalter am Werke, doch Leben, ein sich erneuerndes Reagieren auf die defizitäre Situation und die veränderte Realität, findet allenfalls in den kleinen Zirkeln statt, die sich vor der nivellierenden Übermacht eines joggenden, hantelschwingenden, busineßgeilen Zeitgeistes noch zu halten vermochten. Bestimmt wurden noch nie so viele Mittel für Kultur ausgegeben, aber was wird von dieser Epoche übrigbleiben? Ein Trump-Tower, Mega-Kunstshows mit Größtformatbildern und Rauminstallationen aus Gebrauchsgegenständen und Müll, oder heitere Kompendien über die "unerträgliche Leichtigkeit des Seins"... ?

Da Du gerade sehr vom Deutschen Expressionismus eingenommen bist (den ich auch sehr schätze), fällt mir eine historische Parallele ein: Auch das ausgehende 19.Jahrhundert war (in Deutschland jedenfalls) von einer Erstarrung gekennzeichnet, die von dem himmelschreienden Mißverhältnis zwischen einem schöngeistig-klassisch-gebildeten Bürgertum und der Realität verelendeter Arbeitermassen als Folge einer unbeweglichen und überholten Klassenstruktur geprägt war. Eine Situation, die geradezu nach Veränderung verlangte, zu der die herrschende politische Klasse jedoch nicht fähig und willens war (erst die Katastrophe des ersten Weltkrieges brachte diese schließlich eruptiv zuwege). Die Antworten, die die Kunst auf diese lähmende Situation gab und die Entwicklungen, die in ihr vorweggenommen wurden, sind für mich besonders mit dieser Stilrichtung verbunden. Dies trifft sogar auf den Nationalsozialismus zu, der ja in einer gewissen Weise vom Expressionismus beeinflußt wurde und den entsprechenden Malstil sogar anfangs zur offiziellen Staatskunst erheben wollte (bis sich der geistige Horizont des "Führers" und ehemaligen Kunstpostkartenmalers Hitler durchsetzte).
Denke ich an die heutige Situation, sehe ich, wie schon gesagt, ebenfalls eine Lähmung - aber keine entsprechende Antwort, weder künstlerisch noch literarisch. Und da diese Paralysierung paradoxerweise auch aus zu viel Bewegung, aus Gründen einer sich überschlagenden gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung (die langsam außer Kontrolle gerät), herrührt, und parallel dazu die Fähigkeit, Utopien - die stärkste Kraft für eine Erneuerung - zu denken, verlorengegangen ist, wundert mich das "Stillschweigen" auch nicht. Ja, und es ist auch nicht einmal ein stilles, betretenes Schweigen, das in sich gehen, verzweifelt suchen, alle Kräfte mobilisieren würde. Nein, es ist vielmehr ein lärmendes, um jeden Preis unterhaltendes Spektakel, das unseren Alltag beherrscht und alles Suchende und Zweifelnde übertönt. Bis sich eines Tages, vielleicht ausgelöst durch eine Katastrophe größeren Ausmaßes, lähmendes Entsetzen breitmacht - unter den aufpeitschenden Klängen von Discorhythmen versteht sich.
Deshalb kann ich mir wirklich nicht vorstellen, daß - weder hier noch sonstwo - allein schon das Organisieren, Zelebrieren und Kultivieren von Kultur eine solche hervorbringt. So sehr ein großes Angebot von Ausstellungen, Inszenierungen usw. die Möglichkeiten zur Begegnung und Auseinandersetzung mit ihr schafft, so schnell schlägt ein Überangebot auch ins kontraproduktive Gegenteil um, fördert den schnellen Konsum und verhindert gleichzeitig die einfühlsame Aneignung. Wo doch die intensive Auseinandersetzung mit einem einzigen Bild, dem sich ein suchender Betrachter in kontemplativer Stille widmet, tausendmal mehr bringt als der routinemäßig absolvierte Besuch ganzer Galerien und Kunstshows. (Ach, könnte man einwenden, daß für so was meine Kenntnisse einfach zu gering seien, um wirklich urteilen zu können? Gewiß! Was versteht der Techniker auch von Kunst? Dafür es gibt ja Experten, zahlreich wie nie zuvor, sogar computergestützt. Aber, so möchte ich dagegen halten,  war doch Fachwissen allein noch nie ein Garant für kritische Urteilsfähigkeit. Und ich nehme für mich in Anspruch, auch aus der Position des leidenschaftlich interessierten Laien zu sprechen, dessen Bedürfnis nach authentischer Kunst die Legitimation für seine Kritik ist, wie seine Leiden an den Defiziten dieser Zeit. Ja, ich muß geradezu mein Unbehagen artikulieren als einer, der Kultur braucht, allein schon als Vehikel zur Kommunikation, um als seelisch-geistiges Wesen nicht abzusterben.)
Passend dazu habe ich heute im SPIEGEL unter dem Titel "Paris - die Stadt der Menschheit" eine  kulturkritische Betrachtung über Frankreich gelesen. Es wird von den kulturellen Superlativen berichtet, die zur Zeit in Paris stattfinden (unter den aufgezählten "Shows" ist auch die von Dir mitgestaltete Expressionistenausstellung dabei). Der Tenor des Berichts geht jedoch mehr in die Richtung einer Stimmung des "fin de re`gne", die trotz all der großen Feste herrscht. Der Versuch, mit Macht an eine stolze Vergangenheit anknüpfen zu wollen, die sich jedoch - trotz allem Pathos und der ungeheuren finanzieller Aufwendungen - nicht einfach in die Gegenwart verpflanzen läßt, erscheint mir auch typisch. (Der Kunsthistoriker Marc Fumaroli wird dazu mit den Worten zitiert, "die gegenwärtige französische Kultur zähle mehr Kulturbürokraten als Künstler".)
Wie ist Dein Eindruck von der "Kulturhauptstadt Paris"? - als Zeit- und Augenzeuge? Nachdem ich gerade eine Lesung aus Simone de Beauvoirs Tagebuchaufzeichnungen ihrer Amerikareise aus dem Jahre 1947 im Radio gehört habe, wird mir jedenfalls wieder einmal der eklatante Unterschied zu den Gegenwartsautoren und damit auch zur jetzigen kulturellen Situation bewußt. Mit wieviel Ruhe, Muße, Geisteshintergrund hat diese Autorin noch erlebt, wahrgenommen und festgehalten! Ja, und aus den Zeilen springt einem auch wirklich nicht der manische Drang entgegen, etwas grandios Neues, Einzigartiges vollbringen zu müssen - eine Form der Teilhabe am gängigen Diskurs, die sich heutzutage ja auch unter Intellektuellen so sehr breitgemacht hat (- was sich, trotz aller Wichtigtuerei und künstlichen Aufgeblasenheit in der Sprache, bei näherem Hinblicken schnell als schillernde, aber leider inhaltsarme Seifenblase entpuppt). Nein, man spürt geradezu den in sich ruhenden Geist, der da ganz unspektakulär und unprätentiös am Werke war, mit der ruhigen, sicheren Gewißheit, etwas für offene, suchende Leser, etwas mit Bestand geschaffen zu haben. Und wie zutreffend ihre Amerikabeschreibungen immer noch sind, konnte ich selbst bei meinem Besuch im Jahr1990 überprüfen, nachdem ich vorher das Buch als Reisevorbereitung gelesen hatte.

- Tja, aber ich muß gestehen, daß ich mir mit meiner Anti-Haltung und den immer wieder so plötzlich aufkommenden Aversionen mitunter schon ein wenig komisch (und einsam) vorkomme. Und dann frage ich mich ernsthaft, warum ich mich nicht mit den herrschenden zeitgeistgemäßen Umständen mehr versöhnen, oder zumindest besser arrangieren, kann? Dafür gäbe es doch, partout, objektive Gründe genug? Zum einen lebte es sich bequemer..., und zum anderen befinden wir uns doch, politisch gesehen, in einer Welt, in der, nach dem Zusammenbruch der poststalinistischen Diktaturen, das "Gute"  gesiegt hat, Kriege von den politischen Machtzentren lediglich präventiv, zur Verhinderung von Kriegen, geführt werden, mit dem Mandat der internationalen Staatengemeinschaft. Und blühen Wohlstand und Kultur nicht wie niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte, in den industriell entwickelten Staaten zumindest? Haben sich nicht die Individuen emanzipiert, von repressiven gesellschaftlichen Strukturen befreit, sind die Frauen nicht auf dem besten Weg, das "ewige Joch" des Patriarchats abzuschütteln...?
Ja, der Schluß läge nahe, so einen ewigen Miesepeter als "pathologischen Fall" abzutun; Als einen, der nach dem Motto leben muß: Wenn sie alle glücklich sind, so ist er es aus Prinzip schon nicht. Nein!, Nein!, wird er antworten: Es muß doch wenigstens noch einer auf dem Teppich bleiben, wenn sie alle abheben, das irdische Paradies ausrufen, das Ende der menschlichen (Leidens-) Geschichte verkünden. Nein!, Nein!, schlimmer noch. Er darf nicht schweigen, wenn es so weit gekommen ist, daß selbst Literatur und Kunst nicht mehr imstande sind, die ganze ungeteilte Wahrheit zu sagen, gleichgeschaltet mit einstimmen in den Chorgesang der lockeren, heiteren Glücksempfindung, Transporteure geworden sind für zerstreuende, einlullende Unterhaltung, mithalten müssen bei der exzessiven Betonung und Auslebung der individuellen Partikularexistenz.
Dann beißt sich der nörgelnde Blick nicht "krankhaft" an einer scheinbar glänzenden Gegenwart fest, für die er eben nicht die nötige Feierstimmung aufzubringen vermag. Nein, er geht notgedrungenermaßen schon weit darüber hinaus, muß in die Abgründe blicken, die sich hinter den glänzenden Fassaden auftun, starrt wie hypnotisiert auf die Rechnung, die sich hinter unserem Rücken unaufhörlich aufaddiert - als die Summe der Ausplünderungen einer Zukunft,  die - ohne ein "höheres" Bewußtsein zu haben von Moral oder Schuld - einfach nur reagieren wird, die die Eingriffe und Ausbeutungen nach ihren unaufhebbaren Gesetzmäßigkeiten auszugleichen versucht, und dem ganzen überbeschleunigten, außer Tritt geratenen Zivilisationszirkus Einhalt gebieten, ihn zum Einsturz, ja zum gnädigen Stillstand bringen muß......

Uff, nun soll aber Schluß sein, jetzt habe ich  Dich mit meinen Aufwallungen und einer solchen düsteren Vorausschau genug strapaziert. Aber so geht es mir eben, wenn ich anfange zu denken oder bestimmte Gedanken zuzulassen. Ja, und um da ein wenig Entspannung hineinzubekommen, tut mir ein kleiner Ausflug immer gut - heraus aus meiner Schlachtenseer Abgeschiedenheit  in die Stadt, hinein in das "brodelnde Leben". Meine Lieblingsroute führt jetzt fast immer ins historische Zentrum. Vorbei sind also die armseligen Zeiten, wo ich mich mit einem Bad in der Menge von in Kommerztempeln und Einkaufsstraßen dahineilenden Kaufwütigen, von der Wilmersdorfer bis zum KDW, begnügen mußte. So wie am heutigen Tag, als ich mich in die S-Bahn setzte und mit der Linie 1 bis zum Bahnhof Friedrichstraße fuhr, um mir am Deutschen Theater Karten für eine Langhoff-Inszenierung zu besorgen.
Anschließend spazierte ich die Reinhardtstraße in Richtung Osten entlang, wo mir am Platz vor den beiden Theaterhäusern zuallererst die Büste des großen Theatermannes ins Auge fiel (die ich bis jetzt immer übersehen haben musste). Am Weidendamm überquerte ich die Spree, um von der Brücke aus den Anblick der mächtigen Bauten der Museumsinsel zu genießen (die Renovierungs- und Wiederaufbauarbeiten am Neuen Museum kommen leider nur langsam voran). Nach einer kurzen Erfrischungspause im Cafe´ im Zeughaus machte ich mich auf den Heimweg. Im Dämmerlicht, das ich ja so sehr schätze, weil sich dann Tageslicht und Kunstlicht so geheimnisvoll, verklärend verbinden können, flanierte ich die „Linden“ entlang zum gleichnamigen S-Bahnhof am Brandenburger Tor. Von der Schloßbrücke  westwärts bis zur Humboldt-Universität reihen sich ja die prächtigsten Bauten, die Berlin zu bieten hat, und ich vermag immer aufs Neue den Anblick des Kronprinzenpalais, der Oper, zu genießen, bin fasziniert von der luzide geschwungenen Kuppel der Hedwigskathedrale, die von den Gebäuden ringsherum etwas eingeklemmt, den Bebelplatz nach hinten abschließt.
Leider endet die historische Bebauung ziemlich abrupt nach der Staatsbibliothek, wo sie sang- und klanglos in die gesichtslose Wiederaufbau-Architektur der Fünfziger und Sechziger Jahre übergeht, bei der hier noch so was DDR-spezifisches Provinzielles dazukommt. Geschmälert wird der Genuß ja leider auch viel zu sehr von den dahinrasenden Automobilisten, die - nicht erst seit der Wende, aber jetzt noch massenhafter und PS-stärker - den einstigen Pracht- und Flanierboulevard als Rennstrecke benützen. Eine wütende Aufwallung mußte ich auch noch unterdrücken, als mir, gerade in der wunderbarsten Genießerstimmung verfangen, mit dem Anblick eines am Steuer seines BMWs telephonierenden Geschäftsmenschen der gnadenlose Ungeist des Wiedervereinigungs- und "Aufschwung-Ost"-Goldrausches schmerzhaft zu Bewußtsein gebracht wurde. Aber dann war ich ja bald wieder in meinem Schlachtensee-Domizil, wo mich das alles wieder weniger juckt...

Siehst Du, das alles entgeht Dir, weil Du in so einer aufregenden Zeit aus Berlin weggegangen bist. Aber Du bist ja in Paris, wie Du schreibst, selbst in einer Aufnahme- und Entdeckerphase. Ich bin es hier, wie eben beschrieben, jetzt auch wieder. Ja, ich kann mir durchaus vorstellen, daß Paris, schon allein durch seine Kulturtradition und der - anderen - Mentalität der Menschen, ungeheuer viel zu bieten hat. Aber ich weiß auch aus Erfahrung, daß eine Stadt nur so lange interessant bleibt, als daß menschlich und kulturell Entdeckungen möglich sind. Daß dies manchmal nicht allein an der Stadt liegt, habe ich ja in meinen Jahren hier feststellen müssen. Ich wünsche Dir dazu jedenfalls weiterhin viele intensive Erlebnisse, viel Erfolg auch mit Deinen Kunst- und Deutschschülern. Ja... und wenn ich länger darüber nachdenke, beneide ich Dich doch richtiggehend um Dein Leben, das so mit Kunst umgeben und ausgefüllt ist... während ich, neben meinem Arbeitsalltag, immer nur Zeitnischen für meine eigentlichen Neigungen zur Verfügung habe...

Auf hoffentlich bald in Berlin - oder in Paris?    
Dein  G.

©  1993  Gottfried Schenk