Textschaufenster
Persönliches
Romane
Prosatexte und Lyrik
Fotografie
St. Petersburg

Versuch über St. Petersburg
Anmerkungen zu einer Städtereise

Einer finnischen Sage nach versuchten Könige verschiedener Länder, im Sumpfland an der Newa eine Stadt zu errichten, doch immer verschlangen die Sümpfe die ersten Häuser. Dann kam ein russischer Riese und baute ein Haus, und es versank, er baute ein weiteres und auch dieses verschwand. Darauf ging er in seine Schmiede, wo er in einem riesigen Feuer eine Stadt aus Eisen formte, die er in einem Stück auf den Sumpf setzte. – Ich finde, zutreffender könnten die Schwierigkeiten der Gründung und Errichtung von St. Petersburg in dem unwirtlichen und morastigen Flussdelta mit seinen zweiundvierzig Inseln im hohen Norden Russlands nicht beschrieben werden. In der Tat musste alles Baumaterial, ja so sogar Steine und Erde, über große Entfernungen herbeigeschafft werden. Und der Boden unter der Stadt ist von den Gebeinen der Erbauer übersäht, die den Strapazen zum Opfer fielen.
Kommt man heute nach St. Petersburg, so ist von den Mühen der Erbauer und dem Blutzoll, den die Errichtung der Stadt einmal gefordert hat, nichts mehr zu bemerken. Man betritt eine Stadt im Aufbruch, die dabei ist, wieder an die große Tradition als Russlands Tor zum Westen anzuknüpfen. Deren Status als Kunstmetropole unbestritten ist: Wie kaum irgendwo sonst auf der Welt drängen sich auf engstem Raum Prachtbauten, Schlösser und Museen in einer Fülle, die den Betrachter das glanzvolle städtebauliche Ensemble zwischen Strelka, Haseninsel und Fontanka als ein gigantisches Freiluftmuseum erscheinen lassen.
Im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen ist St. Petersburg eine junge Stadt. In deren Vita die Geschichte, trotz ihrer Jugend, vielfältige Spuren hinterlassen hat. Welcher namhafte Ort auf der Welt kann in den drei Jahrhunderten seiner Existenz auf vier Namensgebungen verweisen? - St. Petersburg, Petrograd, Leningrad und wieder St. Petersburg. Dazu war die Stadt Schauplatz epochaler gesellschaftlicher Umwälzungen. Erst der revolutionäre Umbruch vom feudalistischen Zarenregime zum Kommunismus russischer Prägung, und mit dem Ende des Kalten Kriegs der friedliche Übergang von Einparteienherrschaft und Diktatur des Proletariats zur parlamentarischen Demokratie und Marktwirtschaft. Den Mythos der Stadt an der Newa hat im zwanzigsten Jahrhundert ein Ereignis ganz besonders mitbegründet: Der heroische Überlebenskampf während der Belagerung durch die Hitler-Wehrmacht, dem mehr als ein Sechstel seiner Bewohner zum Opfer fiel. Den Mythos einer Stadt, die seit der politischen Wende Anfang der Neunzigerjahre wieder dabei ist, den Glanz vergangener Tage zurückzugewinnen.

Als ich im Mai 2010 meine ersten Schritte auf Petersburger Boden unternahm, lernte ich eine Stadt mit zwei Gesichtern kennen: Am Newski Prospekt und um das alte historische Zentrum an der Newa eine Fülle von prachtvoll renovierten Kirchen, Palais und Museen, deren Erhabenheit, trotz der sorgfältig renovierten Fassaden, merkwürdig aus der Zeit gefallen wirkte. – Nicht nur wegen der geschäftigen Betriebsamkeit auf den Straßen und der geballten Profanität von Leuchttafeln, Reklamebildern und Billboards, von den Massen an westlichen Luxuslimousinen ganz zu schweigen, die das Überqueren der Straßen zum Abenteuer werden ließen.    
Einige Gehminuten von der historischen Altstadt entfernt jedoch eine andere Welt: Hier überwogen die verwitterten, blättrigen Fassaden, rollten mehr klapprige Wolgas und Ladas über holprige Straßenbeläge, sah man, besonders an den Kais und Ufern der Kanäle, Passanten im beschaulichen Gespräch - als hätte hier Dostojewskis Viertel der kleinen Leute die Zeitläufte überdauert. Aber auch hier fernab des Touristenstroms und der klimatisierten Reisebusse war eine Atmosphäre zu spüren, die das Selbstbewusstsein und den Stolz der Bewohner auf ihr „Pieter“ erahnen ließ.

Auffällig im Straßenbild die zahlreichen attraktiven, gutgekleideten jungen Frauen. Viele von ihnen auf geradezu halsbrecherisch hohen Absätzen unterwegs. Die Repräsentantinnen des Neuen Russland? Die optisch sichtbarsten Gewinner der politischen Wende? Bereits vor meiner Reise war mir bekannt, dass die Frauen im postsowjetischen Russland einem Schönheitskult verfallen sind, in einer für unser westliches Empfinden übertriebenen Form - besonders was die Betonung und Herausstellung weiblicher Reize betrifft. Mein erster Erklärungsversuch ging deshalb in die Richtung, russische Frauen müssten eben massivere Geschütze auffahren, um ihre nicht unbedingt mit Charme und Flirtbereitschaft gesegneten Männer aus der Reserve zu locken. Oder sie hätten, nach siebzig Jahren Sowjet-Tristesse, einen gewaltigen Nachholbedarf, dem sie nun, von westlichen Gendertheorien, Frauenbewegtheiten und radikalfeministischen Abwehrreflexen weitgehend verschont geblieben, in aller Radikalität frönen würden.
Doch noch ein anderer Aspekt spielt eine bedeutsame Rolle, wie ich in Erfahrung bringen konnte, und zwar ein sozialer. Schönheit ist in einem Land wie Russland, das von extremen Gegensätzen zwischen Arm und Reich gekennzeichnet ist, zu einem Schlüssel für den sozialen Aufstieg geworden. Deshalb lässt der Traum vieler junger Frauen, sich einen Millionär zu angeln, nicht nur die Schönheitsindustrie mit ihren Modeläden, Kosmetiksalons und chirurgischen Instituten prosperieren, sondern schafft auch Institutionen zur mentalen Aufrüstung. Frauenschulen, im Volksmund Zickenschulen genannt, in denen die Teilnehmerinnen darauf getrimmt werden, den Mann ihrer Träume gekonnt mit Tricks und Verführungskünsten zur Strecke zu bringen.
All diese an sich wenig romantischen Fakten vermochten meinen Blick auf die Petersburger Schönheiten nicht zu trüben. Die Freude, nach den Jahren des Mangels und der Einheitskluft etwas aus sich zu machen, endlich schicke körperbetonte Kleider, Blusen und Röcke zu tragen, ja die Lust am Frausein regelrecht zu zelebrieren, war den sommerlich-freizügig gekleideten Petersburgerinnen zu offensichtlich auf Schritt und Tritt anzusehen.

Als Teilnehmer einer organisierten Reisegruppe blieb mir für Reflexionen dieser Art allerdings wenig Zeit. Sieben Tage, ausgefüllt mit einem umfangreichen Besichtigungsprogramm, führten nicht nur zu den bedeutendsten Kunstdenkmälern der Stadt, sondern auch in die prachtvollen Sommerresidenzen im Umland, nach Peterhof und Katharinenhof, nach Pawlowsk, und zuletzt noch an die Wiege Russlands nach Nowgorod. Angesichts dieses Mammutprogramms war die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, von der Fülle an Eindrücken, Informationen und historischen Details erschlagen zu werden. Schlossfassaden, Kirchengewölbe, Festungsmauern und Kunstschätze können bekanntlich nicht sprechen, sie werden erst durch das Wissen über ihre Geschichte zum Leben erweckt – durch die Geschichte ihrer Schöpfer und die ihrer Aneignung. In dieser Hinsicht haben sich unsere Reiseleiterin und ihre drei Assistentinnen große Mühe gegeben, auch einschlägige Reiseliteratur und Bücher von bekannten Petersburger Autoren erwiesen sich als hilfreich bei den Bemühungen, das Aufgenommene abzurunden und einzuordnen.
So lernte ich, dass die Geschichte St. Petersburgs zuallererst eine Geschichte von Kriegen ist. Beginnend mit dem Nordischen Krieg, in dessen Verlauf die Rückeroberung des Newadeltas aus schwedischer Hand erst die Voraussetzung für die Gründung der Stadt schuf. Dem die Feldzüge gegen das Osmanische Reich folgten, die Russland den Zugang zum Schwarzen Meer einbrachten. Dann, um nur die wichtigsten zu nennen, die napoleonischen Befreiungskriege, in Waffenbrüderschaft mit Preußen und Österreich ausgefochten, der Krimkrieg gegen England und Frankreich, und schließlich im zwanzigsten Jahrhundert die beiden Weltkriege mit dem für jeden deutschen Besucher beschämenden Höhepunkt der Belagerung und Hungerblockade durch die Hitlersche Invasionsarmee. Davon zeugt ein eigenes Museum, auch sind in einigen Straßen noch Hinweisschilder erhalten, die vor deutschem Artilleriebeschuss warnen. Der wehrhafte Charakter der Stadt ist in einer Vielzahl von fahnengeschmückten Reliefs und Friesen ablesbar, auf denen Helme, Speere und Schilder den Machtwillen der Erbauer betonen (wobei auf den jüngeren Werken der zaristische Doppeladler durch den Sowjetstern ersetzt wurde).
Der friedliche Teil der Stadtgeschichte, die kulturelle Entwicklung St. Petersburgs, ist dagegen eine Erfolgsstory ohnegleichen. Wer den Aufstieg der Stadt aus den Newasümpfen zur Kulturmetropole ersten Rangs verfolgt, wird nicht umhin können anzuerkennen, welche Herkulestat hier in nur wenigen Jahrzehnten vollbracht wurde. Schon bei der Stadtgründung im Jahre 1703 wurden die Weichen für das geistige und kulturelle Zentrum Russlands gestellt. Peter der Große, er war nicht nur groß in Bezug auf seine Lebensleistung als Herrscher, sondern auch von seiner Statur her, ordnete per Dekret die „ewige Ansiedlung“ von Steinmetzen, Zimmerleuten und Tischlern an, ja verfügte sogar, dass nirgendwo sonst in Russland mit Stein gebaut werden durfte. In seine Herrschaftszeit fallen die Eröffnung der ersten Druckerei, in der die allererste Zeitung des Landes herausgebracht wurde, die Verlegung der kaiserlichen Bibliothek von Moskau und deren Öffnung für die Bevölkerung, sowie die Gründung der Akademie der Wissenschaften.
Angelockt durch üppige Apanagen und großzügige Entfaltungsmöglichkeiten müssen ganze Heerscharen von Architekten, Künstlern und Gelehrten die Reise in den Nordosten Europas angetreten haben. Deren Wirken heute in Form von zahllosen Palästen, Kathedralen, Museen und Kunstwerken zu besichtigen ist. Womit auch eine Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die zu einer eigenständigen russischen Schule führte. Jedem ausländischen Fachmann von Rang wurde eine Werkstatt mit zehn russischen Lehrlingen zugewiesen, mit dem Ziel, den Aufbau eines Ausbildungszentrums in die Wege zu leiten, das eine genuin russische Richtung begründete.
Auf welch fruchtbaren Boden der Samen fiel, kam dann im neunzehnten Jahrhundert zu voller Entfaltung. Es gilt heute als die Blütezeit St. Petersburgs. Neben der bereits von Katharina der Großen gegründeten Eremitage wurde das Russische Museum eröffnet, in dem die Werke russischer Künstler ausgestellt sind. Ballett, Theater und Oper erlebten einen rasanten Aufschwung, mit dem Namen wie Tschechow, Gorki, Glinka, Mussorsgki, Tschaikowski, Rachmaninow verbunden sind. Wie überhaupt die Liste der einmal in der Stadt beheimateten Persönlichkeiten lang ist: Alexander Puschkin, Fjodor Dostojweski, Nikolai Gogol, Iwan Gontscharow, Anna Achmatowa, Dimitrij Schostakowitsch und Joseph Brodsky, um nur einige der Bekanntesten zu nennen. Die verbreitete Bezeichnung St. Petersburgs als Kopf Russlands, Moskau dagegen als dessen Herz, erscheint vor diesem Hintergrund verständlich.

Mit der Revolution, die 1917 in der damals größten Industriestadt Russlands ihren Ausgang nahm, und der ihr folgenden Verlegung des Regierungssitzes nach Moskau, erfolgte der Abstieg St. Petersburgs zur Provinz. Von Zeitzeugen ist überliefert, mit welcher Wucht sich der Hass auf die entmachtete herrschende Klasse in Form von Morden, Plünderungen und Vertreibungen entlud. Ein großer Teil der geistigen Elite ging ins Exil, viele nach Paris oder Berlin. Bis in die späten Zwanzigerjahre hinein wurden wertvolle Exponate aus den Museen ins Ausland verkauft – für die Beschaffung von Traktoren, Fabrikanlagen und Waffen zum Aufbau des Sozialismus. Viele der in der Sowjetzeit verfallenen oder in Lagerhäuser umgewandelten Kirchen werden erst heute wieder restauriert und als Museen geöffnet, oder der Kirche zurückgegeben. 
Der 1972 in die USA zwangsemigrierte Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky spricht in seinen „Erinnerungen an Leningrad“ von der „zunehmenden Vulgarität“, die sich für ihn mit dem Namen Leningrad verbinden würde. Einen Namen, den er als 1940 in dieser Stadt Geborener verabscheue. Seine Person steht in meinen Augen beispielhaft für die kulturelle und geistige Potenz, die sich trotz Umbenennung und Sowjetherrschaft erhalten konnte. Wie in seinem Rückblick beschrieben, hat er von den Fassaden und Portikus, Pilastern, Stuckköpfen, Ornamenten und balkontragenden Karyatiden seiner Heimatstadt mehr über die Geschichte der Welt gelernt als in irgendeinem Buch. Ägypten, Rom und Griechenland waren ihm schon als junger Mann wie selbstverständlich vertraut - ohne jemals dort gewesen zu sein! Ohne höhere Schulbildung, er ging vorzeitig von der Schule ab und heuerte in einer Maschinenfabrik an, schlug er die Schriftstellerlaufbahn ein. Die ihm als missliebigen Intellektuellen 1964 die Verurteilung zu fünf Jahren Haft wegen Parasitentums einbrachte, dann aber, nach seiner Übersiedlung in die USA, 1986 mit dem Nobelpreis für Literatur gekrönt wurde.
Was die literarischen Größen der Stadt betrifft, hatte ich lange vor meiner Reise in „Oblomow“ von Iwan Gontscharow eine begeisternde Lektüre gefunden. Nicht wegen einer nostalgischen Anwandlung, einer Schwäche für die russische Feudalgesellschaft oder einer wie auch immer gearteten Begeisterung für eine antriebslose Träumerexistenz, sondern wegen des geschärften Blicks auf die Jetztzeit, die es vermittelt. In einer Zeit wie der unsrigen, die von einem gnadenlosen Effizienzstreben geprägt ist, öffnet einem Iwan Gontscharows Lektüre aus dem neunzehnten Jahrhundert die Augen für die Schattenseiten unserer Leistungsgesellschaft. Indem sich der Protagonist Ilja Iljitsch Oblomow, ein junger, in Petersburg ansässiger Gutsbesitzer, jeglichem Funktionieren verweigert, versucht er als Mensch ganz zu sein, gilt sein Bestreben der Befreiung aus dem ewigen Kreislauf der Leidenschaften, der Habgier und der Entfremdung von sich selbst durch Bedürfnislosigkeit. Sein liebster Aufenthaltsort ist sein bequemes Sofa, von dem er sich nur selten erhebt. Sein literarischer Gegenspieler, der deutschstämmige Unternehmer Andrej Stolz, verkörpert dagegen das aufkommende zwanzigste Jahrhundert. Er ist geschäftstüchtig, erfolgsorientiert und nimmt am gesellschaftlichen Leben teil. Als Teilhaber einer Auslandsexportgesellschaft wird er wohlhabend und heiratet die schöne Olga, deren Gunst Oblomow wegen seiner Passivität verliert.
Ich finde, es ist kein Zufall, dass Gontscharow hierzu eine Figur deutscher Abstammung wählt. Ist doch die Geschichte St. Petersburgs auch eine Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, mit allen Höhen und Tiefen. Schon bei der Gründung der Stadt, die auf ausdrücklichen Wunsch Peters den deutschen Namen erhielt, kam es zur Ansiedlung von deutschen Handwerkern und Kaufleuten, deren Zahl in den folgenden Jahren stetig wuchs. Die russischen Zaren bevorzugten als Gattinnen vornehmlich deutsche Adelstöchter, von denen eine Prinzessin aus Anhalt-Zerbst als Katharina die Zweite oder die Große den Aufstieg des Landes zur Großmacht maßgeblich prägte. Iwan Gontscharow versteht es in seinem Roman vortrefflich, das durchaus gespaltene Verhältnis Russlands zum Deutschtum zum Ausdruck zu bringen. Da ist einmal die Bewunderung für die Zielstrebigkeit und die Erfolgsorientiertheit, die den deutschen Charakter aus russischer Sicht auszeichnen, aber auch die unterschwellige Ablehnung der Geradlinigkeit, Pedanterie und Derbheit, die sich so sehr vom weichen und zuvorkommenden russischen Wesen unterscheiden sollen.

Unserem Begleitpersonal ist es zu verdanken, dass wir trotz aller zeitlichen und menschlichen Beschränkungen einige interessante Einblicke in das Alltagsleben der Petersburger gewinnen konnten. Vor allem durch unsere Hauptreiseleiterin Lina, die es mit der ganzen Routine ihrer zwanzig Berufsjahre als staatlich ausgebildete Reiseführerin verstand, unser Russlandbild mit kurzweiligen Geschichten und witzigen Anekdoten zu bereichern. So lernten wir während der Busfahrten zu den außerhalb der Stadt gelegenen Besichtigungsorten, die ja durch die Neubaugürtel der Stadt führten, die Rangfolge der Wohnbauten aus der Sowjetära kennen: Dass die Wohnanlagen aus der Stalinzeit mit ihren klassizistischen Fassadenelementen und großzügigen Grundrissen den Spitzenplatz einnehmen würden, die in Massenbauweise errichteten Breschnew-Bauten und die noch kleineren und schäbigeren Chruschtschow-Häuser dagegen weniger hoch im Kurs ständen. Letztere wiesen mit ihrer billigen Plattenbauweise und den heruntergekommenen Fassaden in der Tat unübersehbare Ähnlichkeit mit den Ostberliner Neubaugebieten der Vorwendezeit auf. Oder sie weihte uns in die Nöte der Petersburger Nachtschwärmer ein, die wegen der nach Mitternacht hochgezogenen Brücken nicht mehr in die auf der anderen Newaseite gelegenen Stadtteile zurückkehren könnten – was Auslöser für so manche Ehekrise sein soll. Auch eine kurios anmutende Besonderheit aus der Wendezeit blieb uns nicht verborgen: Die Volksabstimmung von 1991 ergab eine Mehrheit für die Rückbenennung in St. Petersburg lediglich im Stadtgebiet, das umliegende Territorium verblieb als Leningrader Gebiet, oder auf russisch Leningradskaya Oblast, bei seiner Benennung aus der Sowjetzeit.
Die stämmige Valentina, deren Sachverstand uns in Katharinenhof und Pawlowsk begleitete, verkörperte für mich so etwas wie den Urtyp der russischen Frau. Wuchtige Statur, eine unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit ausstrahlend und mit beiden Beinen fest auf dem Boden verankert, nahm sie uns „Nemzy“ in ihre Obhut wie Schutzbefohlene, um sie in die Schätze des ewigen Russland einzuweihen. Dass sie dabei mitunter militärisch anmutende Vokabeln wie „vorwärts“ und „Kolonne marsch“ benutzte, besaß durchaus eine humoristische Seite – auch wenn bei den Älteren und Geschichtsbewussteren Assoziationen an „Plenny“, also deutsche Kriegsgefangene, aufkommen mochten, die sie mit ihren Kommandos auf Trab zu bringen versuchte. Ihren unerschütterlichen Patriotismus offenbarte sie mit einer russischen Fahne, die sie zur Orientierung für die um sie Gescharten in die Höhe hielt, wogegen ihre Kolleginnen eine eher unverfänglichere Symbolik bevorzugten, z.B. eine rote Rose oder ein Winkelement mit weißer Schleife.

In Lena Goreliks unlängst erschienenen Reisebuch „Verliebt in Sankt Petersburg“ beschreibt die junge Münchner Autorin die Rückkehr in die Stadt ihrer Kindheit. Folgt man ihren Ausführungen, so findet das eigentliche Leben der Petersburger nicht in der Öffentlichkeit statt, sondern im Familienkreis und in den eigenen vier Wänden: Im Eigenheim, in einer Kommunalka oder in der Datscha. Wie man überhaupt auf den knapp hundertsiebzig Seiten viel von dem erfährt, was einem als Gruppenreisenden verborgen bleiben musste. Zum Beispiel tiefergehende Einblicke in die russische Mentalität. Wer sich über die manchmal bis ins Unfreundliche gehende Zugeknöpftheit vor allem der russischen Männer gewundert hat, weiß nun, dass dies nur für ihr Auftreten in der Öffentlichkeit zutrifft. Dort gilt ganz offensichtlich die Parole: „Lachen verboten“, verbunden mit der Zurschaustellung eines grimmigen Gesichtsausdrucks, wie er vielen vielleicht noch vom ehemaligen sowjetischen Langzeit-Außenminister Andrej Gromyko vertraut ist (Spitzname „Grim-Grom“). Was sich dann im privaten Kreis schlagartig ändern soll, wo Ausgelassenheit und emotionale Ausbrüche zum guten Ton gehören. Oder man erfährt, dass Russen unglaublich abergläubisch sein können. Vor einer Reise oder wichtigen Terminen wie der Hochzeit oder einer Prüfung werden mit vielfältigen Ritualen die Geister beschworen – mit „Sitzen“, „Schimpfen“ oder „Spucken über die linke Schulter“. Selbst Wladimir Putin soll den Termin seiner zweiten Amtseinführung mit seinem Astrologen abgestimmt haben.
In ihrem Anfangskapitel beschreibt die Autorin ein Erlebnis, das auch ich vor Beginn meiner Petersburgreise in Erfahrung bringen musste: die Schwierigkeiten, ein Einreisevisum zu bekommen. Nach mehrmaligen erfolglosen Behördengängen hat sie das leidige Problem dann über eine Agentur gelöst, die sich auf die Visumbeschaffung für deutsche Touristen spezialisiert hat. „Nie wieder russisches Konsulat“ – diesem Slogan möchte auch ich mich anschließen. Mein Einreisevisum erhielt ich am Tag vor meiner Abreise exakt zum Geschäftsschluss um achtzehn Uhr – obwohl ich Pass und Visumantrag bereits drei Monate vorher abgegeben hatte! Als naivem Mitteleuropäer stellte sich mir deshalb die Frage, ob man, aus den altbekannten Abwehrreflexen heraus, keine ausländischen Touristen ins Land lassen möchte? Oder wurden die Behörden bei meinem österreichischen Pass mit deutscher Aufenthaltsgenehmigung misstrauisch? Falsch, auch hierfür hat Lena Gorelik die Antwort: es sind die Schatten der Vergangenheit. Trotz des neuen, zumindest der Form nach demokratischen Russlands mit seinen glänzenden Fassaden, Oligarchen und Luxuslimousinen lebt in den Köpfen der Menschen die Sowjetzeit weiter. Das gilt ganz besonders für die Ämter. Sie repräsentieren einen Staat, der im Verständnis der Leute immer noch der Übervater ist - mit all seiner Allmacht, Arroganz und Bevormundung.
Der, wenn man die jüngere Geschichte Revue passieren lässt, durchaus gruselige Bilder hervorrufen kann (auch wenn diese aus der sicheren Entfernung einer Westbiographie aufgenommen wurden). Kalter Krieg, Berlinblockade, Mauerbau, Kubakrise, ein mit dem Schuh auf das Rednerpult hämmernder Generalsekretär Nikita Chruschtschow, die Invasionen in Afghanistan und Tschetschenien – erst mit Michail Gorbatschow konnte mein Russlandbild freundlichere Züge bekommen. Eine Stimmungslage, die sich inzwischen sogar bei den Regierenden herumgesprochen hat. Denn in diese Richtung würde ich die Äußerungen des russischen Präsidenten Medjedew deuten, der bei den jährlichen EU-Russlandgipfeln immer aufs Neue darauf drängt, die Visumspflicht für Reisen in die Europäische Union abzuschaffen. – Um, so seine Argumentation, bei EU-Bürgern alte Ängste aus sowjetischer Zeit abzubauen.
Da das bekanntlich bis heute nicht geklappt hat, werden Petersburg-Reisende wohl auch zukünftig die umständliche wie zeitaufwändige Visumvergabe auf sich nehmen müssen – um dann bei der Passkontrolle von mürrischen und pedantisch kontrollierenden Beamten in Empfang genommen zu werden.

Nervereien, für die mich St. Petersburg jedoch in so reichhaltiger Form entschädigt hat, dass ich vom Zauber der Stadt mit ihren goldenen Kuppeln, beflügelnden weißen Nächten und unermesslichen Kunstschätzen nicht mehr loskomme. Eben: verliebt in St. Petersburg!

© Gottfried Schenk 2010