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Unverhoffte Begegnung

Unverhoffte Begegnung
oder
Depression eines getrennt lebenden Vaters

Es ist ein Tag wie viele andere in einer Zeit der Orientierungslosigkeit. Morgens aufstehen, weggehen, abends wiederkommen; hinein in die Leere, hinaus in die Leere, erscheint als eine merkwürdige Realität von Leben. Schon längst hat die Ungeduld aufgehört, auf ein besseres Morgen zu drängen.
Bescheiden geht es um das nackte Bestehen des Jetzt. Getragen von einer vagen Hoffnung, die eine Hoffnung ist gegen jede Vernunft. Denn Vernunft ist ein Wort für die Logik aus der Summe der gewussten Erfahrungen.
Ein mühsames Leben, abseits vom Strom, fernab der Quellen. Entbunden der Verbundenheit:

Dein Feind der Nächste
Das Fremde dein Freund
Die Liebe die Last.

Mit der Erinnerung an einmal, als es noch anders war. Doch die Frage nach dem Warum gerät zur Bedrohung.

Ein Ringen.
Doch die Illusion, die Leben heißt, ist nicht auszurotten. Obwohl unzählige Male verwundet, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, vermochte sie immer wieder aufzuerstehen. Es sind zwei Stimmen, die sich auch an diesem Tag zu Wort melden: Eine hat das Wissen der Erfahrung, die andere die Antriebskraft des Lebens auf ihrer Seite.
Und wie immer bleibt offen, welche Stimme die Oberhand behalten wird.

Der zu Ende gehende Tag bringt die Gewissheit, der Einsicht das Feld überlassen zu haben. Ein leichter Sieg diesmal, gewachsen auf dem sicheren Fundament des Zweifels, hat er seinen Namen verdient: Resignation.
Es bleibt die Flucht in die Zurückgezogenheit. Der einzig gnädige Ort winkt, abgeschirmt durch Mauern und verschlossene Türen. Der Weg dorthin führt über ausgetretene Stufen, vorbei an den Fenstern zum Hof. Als ob daraus eine neue Hoffnung erwachsen könnte, in der Wiederholung die Addition des unspürbar Kleinen zum erlösenden Großen läge, drängt das Auge hinaus.

Zu einem Bild, wie es der alltäglichen Wahrnehmung längst vertraut geworden ist. Ein graues Gebilde aus abblätternden Fassaden, leeren Fensterhöhlen, überquellenden Mülltonnen und abgetretenen Grünflächen. Durchschnitten von backsteingepflasterten Fußwegen.
Stufe für Stufe steige ich hinauf. Vorbei an verschlossenen  Wohnungstüren mit Namensschildern, die ich begierig lese, als wären sie neu. Aber keine Tür öffnet sich. Was mich jedes Mal aufatmen lässt, brächte ein unverhofftes Zusammentreffen doch nur ein weiteres Strapazieren der verbrauchten Kräfte.
 Bereits das zweite Fenster liegt hinter mir. Auch von dort ist keine Menschenseele zu sehen. Nicht einmal die Clique von Halbwüchsigen, die manchmal im Buddelkasten ihre Raufhändel austrägt oder in den Mülltonnen nach Verwertbarem wühlt. Oder, mit einer Batterie Bierbüchsen ausgerüstet, eine der Sitzbänke bevölkert, um sich mit Zoten und kraftmeierischen Sprüchen in Stimmung zu bringen. Nein, draußen ist es vollkommen ruhig. Der Hof liegt regungslos und verlassen da, nicht einmal ein Fenster ist erleuchtet, trotz der schon fortgeschrittenen Dämmerung.
Ich nähere mich dem letzten Treppenabsatz. Das Bild hinter den verschmutzen Scheiben vervollständigt sich. Bringt den  morbiden Koloss des Seitenflügels zum Vorschein, dann das rechtwinkelig angrenzende Quergebäude, schließlich die gesamte Hofinnenfläche. Als ich dabei bin, mich zu lösen, entdecke ich etwas Neues.

Ein Kind.
Ein Mädchen von etwa sechs Jahren. Es durchläuft den Innenhof, von der Durchgangstür aus dem Vorderhaus kommenend, will es zum Quergebäude.
Die Kleine sieht anders aus als die Kinder, die hier wohnen oder in den Hof zum Spielen kommen. Sie ist so angezogen, wie es eigentlich nur in ländlichen Gegenden üblich ist. Sie trägt einen grünen Lodenmantel und hat sauber geflochtene Zöpfe, die frech aus der roten Zipfelmütze herausragen. Auch ihr unsicheres Vortasten und neugieriges Umherblicken verraten ihre Fremdheit.
Gebannt bleibe ich stehen und sehe ihr nach. Sie durchquert zielstrebig den Hof und läuft auf den Eingang des Quergebäudes zu. Ob sie mit ihren Eltern hier zu Besuch ist und über dieses in seiner Tristheit für sie vielleicht sogar faszinierende Umfeld staunt?
Schnell hat das Mädchen den Eingang erreicht. Etwas unbeholfen macht es sich daran, die Eingangstür aufzuziehen. Ob sie es schaffen wird? Beide Hände umfassen die Klinke, versuchen mit energisch zurück geworfenem Oberkörper den schweren Türflügel zu sich her zu zerren. Träge öffnet sich das Tor zu einem Spalt, der langsam größer wird. Ihre blonden Zöpfe baumeln dabei bei jedem Zugversuch aufmunternd mit. Als der Spalt breit genug ist für ein sicheres Durchkommen, hält die Kleine plötzlich inne.
Sie spürt, dass sie beobachtet wird, dreht sich um. Ihre Augen gehen in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Wandern weiter bis zum Durchgang, schweifen nach links und rechts aus, und ziehen, als sie dort nicht fündig werden, hinauf zu den Flurfenstern im Vorderhaus. Im obersten Stockwerk angekommen entdecken sie mich.
Unsicher beantworte ich ihren Blick. Aber die Augen weichen nicht aus. Dieses kleine Wesen scheint keine Angst zu haben vor dem fremden Mann, der dort oben steht und wie hypnotisiert zu ihm hinunter starrt. Was kann es bloß an dem versunkenen Beobachter interessieren?

„Wer bin ich denn in deinen Augen, du kleiner Zwerg?“
Ich spüre, was dieser Kinderblick in mir wachruft. Es ist schwer auszuhalten. Die hellen Kinderaugen versetzen mich blitzartig in ein anderes Leben. Rufen Erinnerungen an eine Zeit wach, in der all die Abstriche, Kompromisse und Selbstbescheidungen nicht notwendig waren. Ich schwanke zwischen Dableiben und Davonlaufen.
,,Du süßer kleiner Zwerg!"
Energisch reiße ich den Arm hoch und beginne zu winken. Erst schüchtern und unbeholfen, und dann, als das Kind antwortet, heftiger. Plötzlich muss ich weg. Nur schnell weg. Mit eiligen Schritten nehme ich die letzten Stufen, erreiche die Wohnungstür. Stecke atemlos den Schlüssel ins Schloss, drehe ihn mit einem ungestümen Ruck nach rechts. Als die Tür aufspringt, bin ich in Sicherheit.
Erst drinnen, in der stillen Abgeschiedenheit der Wohnungsdiele, kann ich erleichtert aufatmen. Lasse den aus der Erstarrung befreiten Gefühlen freien Lauf. Nein, hier an diesem stillen Ort brauche ich mich meiner Tränen nicht zu schämen!

©  Gottfried Schenk 1988