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Grenzerfahrungen

Grenzerfahrungen
Erzählung

Ein Volkspolizist mit Pelzmütze und Marschallstab dirigiert an einer Baustelle den Verkehr auf die Gegenfahrbahn, im Schritttempo geht es vorbei an einer stoisch werkelnden Straßenbaubrigade. Die Szenerie bringt eine willkommene Abwechslung nach fast drei Stunden eintöniger Geradeausfahrt: Seit dem Morgen bin ich mit meinem Freund Flo auf der Transitautobahn unterwegs von West-Berlin in Richtung Hirschberg, dem südlichsten Grenzkontrollpunkt der DDR zur BRD, und die Fahrt will kein Ende nehmen.
„Wie weit haben wir’s noch?“
Flo hebt den Kopf und blinzelt müde zu mir herüber. Dann verschwinden seine Augen im Straßenatlas. Einem rot gebundenen Monstrum, das etwas unbeholfen auf seinen Knien balanciert.
„Schätze, es sind noch zwanzig Kilometer bis zur Grenze.“
Meinem Gefühl nach müssten wir längst da sein. Seit wir das Auto an der Intertankstelle Hermsdorfer Kreuz vollgetankt haben, in der Raststätte gespeist und im Intershop zu sagenhaft günstigen Preisen ein paar Mitbringsel erstanden haben, ist mehr als eine halbe Stunde vergangen. Genug Zeit also, um die letzten Kilometer hinter uns zu bringen. Aber die Gegend ist hügelig, obwohl wir nach dem Baustellenbereich wieder freie Fahrt haben, muss ich bei jeder Steigung in den dritten Gang zurückschalten. Müde quält sich der betagte Käfer mit mageren fünfzig Sachen über schlecht verfugte Betonplatten, die uns bei der anschließenden Bergabfahrt durchrütteln und den Wagen wie bei einer Wüstenrallye schlingern und vibrieren lassen.

Ein verwaschenes Hinweisschild fliegt vorbei, doch bevor ich die Entfernungsangabe entziffern kann, ist es weg und taucht erst wieder im Rückspiegel als unleserliches Schrumpfobjekt auf. Argwöhnisch behalte ich den Fahrbahnrand im Auge. Hinter jeder Kurve, jedem Strauch und jedem Brückenpfeiler könnte eine Radarfalle lauern, bei unserer letzten Fahrt bin ich wegen einer lächerlichen Geschwindigkeitsüberschreitung von elf Stundenkilometern achtzig Mark losgeworden. Westmark, versteht sich. Ich will wissen, ob Flo mitguckt, sehe aber, dass sein Kopf seitlich verdreht an der Beifahrertür liegt; nur von Zeit zu Zeit signalisiert er mir mit verschlafenen Blicken seine Bereitschaft, wach zu bleiben. Aus Solidarität? Oder weil er meinen Fahrkünsten misstraut?
Um mich aufzuputschen, drücke ich die Kassette ins Fach: Pink Floyd, Atomic Heart Mother. Die ruhigen Synthesizersequenzen gehen in den Fahrgeräuschen fast unter, um nichts zu verpassen, drehe ich den Lautstärkeregler bis zum Anschlag hoch. Im Nu ist auch Flo wieder hellwach. Die beiden Türlautsprecher dröhnen und scharren bei den orchestralen Passagen wie ins Schwingen geratene Fliegengitter, was unserer Hochstimmung keinen Abbruch tut. Wir schauen uns verzückt in die Augen, beginnen zu schweben, lassen die Köpfe entrückt im Takt mitzucken. Ja, jetzt ein Joint, das Haupt in die Rückenlehne gebettet und die Beine hochgelegt - das Feeling wäre perfekt!
Was draußen vorüberzieht, erscheint mir plötzlich wie ausgewechselt. Bräunliche Felder verwandeln sich in sanft-hügelige Wiesen, von bewaldeten Kuppen und dunklen Baumgruppen umsäumt, dazwischen kleine, verschlafene Dörfer und Siedlungen, die um schiefergedeckte Kirchtürme geschart sind. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die legendäre Kuh vom Cover des Albums neben der Autobahn grasen, sie dreht den Kopf her, grinst uns zu und verdreht die Augen, als wäre sie high. Pink Floyd im Sozialismus? Eine pikante Vorstellung in einer Gegend, in der offensichtlich die Zeit stehen geblieben ist. Außer solitären Wohnblocks, die mit ihren kantigen Rechteckformen wie Fremdkörper aus dem gewachsenen Ortsbild der Ortschaften herausstechen, und den an den Einfahrtsstraßen zeilenförmig angelegten Landwirtschaftsgebäuden, deutet nichts auf ihre Existenz im zwanzigsten Jahrhundert hin. Oder auf den Sozialismus, der von den Autobahnbrücken mit verblassten Schildern eine goldene Zukunft verheißt.

Wir erreichen den Abzweig Schleiz, aber in dem welligen Bergland, das sich bis zum Horizont erstreckt, ist noch immer kein Grenzkontrollpunkt zu erkennen. Nur die abnehmende Zahl der Fahrzeuge mit DDR-Kennzeichen deutet darauf hin, dass es nicht mehr weit sein kann. In einem Anflug von Nostalgie lasse ich das Erlebte Revue passieren. Unser Aufenthalt in der Raststätte – ein Ausflug auf einen anderen Planeten? Dessen Bewohner sich uns gegenüber auffällig reserviert verhielten. Bis sich plötzlich ein Mann von Anfang dreißig zu uns setzte, sichtlich aufgeregt fragte, wohin es ginge, um dann, nach unserer Antwort, mit bekümmerter Miene zu erwidern, da auch einmal hin zu wollen. Betretener Blickwechsel zwischen Flo und mir. Was wollte der Mann? Uns eine Falle stellen? Oder gehörte er zu denjenigen, die den Verlockungen des kapitalistischen Westens erlegen sind und abhauen wollen? Und jetzt von uns eine solidarische Geste einfordert? Beinahe erleichtert stimmten wir zu, als er bat, für uns zahlen zu dürfen und ihm dafür das Westgeld auszuhändigen.
Dann auf dem Weg zur Toilette die verwirrende Begegnung mit der attraktiven jungen Frau, deren schweren sächsischen Akzent ich kaum verstehen konnte. Plateausohlenstiefel, Glockenschnitt-Jeans, darüber ein fuchsienfarbener Kapuzenanorak - keine Spur von der herben Aura einer Heldin der sozialistischen Arbeit! Kurzes Abtasten, ein paar Floskeln nach dem Woher und Wohin, dann standen wir uns für einen Moment sprachlos gegenüber. Wie flirtet man im Sozialismus? Ich spürte die Gedanken in ihr klicken, versuchte mir auszumalen, wie sie mich sieht und was in ihr vorgeht. Doch seit dem Betreten der Raststätte fehlte mir die nötige Unbefangenheit. Das weiche Gesicht, die offene Körpersprache, der begehrliche Blick - alles an ihr zog mich wie magisch an. Vielleicht, weil verbotene Früchte eine besondere Anziehungskraft besitzen? In diesem Moment setzte bei mir das große Grübeln ein: Jede x-beliebige Bekanntschaft, die ich in München, Hamburg und sonstwo im Westen machen würde, könnte ich jederzeit wiedersehen; wir könnten uns zusammentun, uns lieben und wieder trennen, wenn wir das wollen, ja sogar heiraten und eine Familie gründen. Nur die hinreißende Frau aus Gera bleibt für mich unerreichbar. Reaktionäres Gedankengut oder nur die ungeschminkte Wahrheit? Ein Kellner, der mit voll beladenem Tablett an uns vorübereilt, lässt mich wieder aus dem Nebel von Fragen, halbherzigen Antworten und Zweifeln auftauchen. Die Zeit drängte, draußen im Auto wartete Flo, es drohte  Ärger an der Grenze, wenn wir das Zeitlimit überschreiten würden.

Ein vor uns die Steigung hinaufkriechender Sattelschlepper zwingt mich auf die Straße zurück. Ich wechsle auf die Überholspur, versuche zu beschleunigen, doch es geht immer steiler bergauf und der Wagen will nicht vorankommen. Ungeduldig trete ich das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Plötzlich rhythmisches Klappern aus dem Wagenheck! Erschrocken löse ich den Fuß vom Gaspedal, lasse mich wieder hinter den Lkw zurückfallen. Ist es die Maschine? An der vielleicht nur eine Abdeckung lose geworden ist? Oder doch etwas Schwerwiegenderes? Das Geräusch wird bedrohlicher, wächst zu einem stanzmaschinenartigen Poltern aus. Ich lasse den Käfer rollen, versuche wieder zu beschleunigen. Doch der Motor reagiert nicht. Plötzlich ein harter, metallischer Knall, der Wagen bäumt sich auf, ich schaffe es gerade noch, die Kupplung durchzutreten. Dann ist es im Motorraum totenstill. Reflexartig suche ich nach einer Haltemöglichkeit; wir haben Glück, denn es geht wieder bergab und ein Hinweisschild kündigt in einen Parkplatz an, den wir gerade noch erreichen.
„Mein Gott“, entfährt es Flo, „das jetzt so kurz vor der Grenze!“
In der Tat braucht es nicht viel Fantasie, um uns den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Eine Panne im Osten, das ist wie eine Odyssee im Weltall ohne Kontakt zur Bodenstation! Ein Gefühl von Hilflosigkeit, ja Ausgeliefertsein überfällt mich. In meinen düstersten Vorahnungen sehe ich unser Reiseziel in weite Ferne rücken. Dazu der finanzielle Aspekt. Den Wagen haben wir im Sommer über eine Anzeige günstig erstanden, die Maschine allerdings bereits nach kurzer Zeit wegen Problemen mit der Nockenwelle austauschen müssen. Die jetzige stammt von einem Schrottplatz, wurde nur notdürftig instand gesetzt und von uns in mühevoller Handarbeit selbst eingebaut. Wir haben keine Ahnung, in welchem Zustand sie ist und wie viele Kilometer sie drauf hat. In keinem Fall aber haben wir das Geld für eine neue. Während ich noch wie gelähmt vor dem Wagen stehe und vor mich hin stiere, hat Flo bereits die Heckklappe geöffnet. „Nichts zu sehen“, so sein lakonischer Kommentar. „Wird wohl ein Kolbenfresser sein.“

Bereits das zweite Auto erbarmt sich unser und bleibt stehen. Das freundliche Paar aus West-Berlin, dem Aussehen nach Senatsangestellte oder Lehrer, hat alles im Kofferraum, was man in so einer Situation benötigt: Warndreieck, Signalleuchte, Abschleppseil. Ihr Peugeot 304 besitzt auch genug Pferdestärken, um uns in den Schlepptau zu nehmen. Mit behänden Griffen verzurrt Flo das fasrige Kunststoffseil, im Schritttempo geht es wieder zurück auf die Autobahn. Schon nach wenigen Kilometern taucht das schlichte Häuschen des ersten Grenzpostens auf. Der Wachhabende wirft uns einen misstrauischen Blick zu, lässt uns dann aber, nach eingehender Überprüfung der Papiere, passieren.
Am Kontrollpunkt werden wir in eine Fahrspur dirigiert, von einem mürrischen Posten nach der Anzahl der Personen befragt und ob wir Waffen, Tiere, Kinder, Munition oder Funkgeräte mitführen würden. Dann verschwinden unsere Reisedokumente nach erneuter penibler Begutachtung auf dem Transportband zur zentralen Kontrollstelle. Dort heißt es, die Seitenfenster herunter kurbeln, das linke Ohr frei machen, und der Reihe nach zur Gesichtskontrolle antreten. Der Uniformierte hinter dem Schalter betreibt seine Arbeit, jedes physiognomische Detail unserer Gesichter wie nach einer exakt vorgeschriebenen Prozedur zu inspizieren, mit einer geradezu roboterhaften Pedanterie. Das verbiestert ernste Mondgesicht mit dem wulstigen Doppelkinn und der etwas zu klein geratenen Uniformmütze wirkt dabei ungewollt komisch, nur mit Mühe kann ich mir ein Grinsen verkneifen. Dann endlich mein Name. Der Grenzer klappt den Ausweis mit dem grünen Einband auf, schaut hinein, schaut zu mir her, fixiert etwas neben meiner Nasenwurzel, seine Pupillen gehen wieder nach unten, dann wieder in Richtung meiner Augen. Als sich unsere Blicke kreuzen, platzt es aus mir heraus. Die Starre in seiner Miene, diese ganze lächerliche Pose eines zum Automaten abgerichteten Funktionsträgers, plötzlich kann ich mich nicht mehr beherrschen und muss lauthals kichern. Der Laserstrahl-Blick unter der mausgrauen Schildkappe verfinstert sich prompt. Fleischige Finger klappen kommentarlos den Ausweis wieder zu; mit böse auftrumpfender Stimme werden wir angewiesen, die Fahrzeuge neben der Warteschlange abzustellen. Unsere Helfer wollen erschrocken wissen, was los sei, aber außer einem barschen „Folgen Sie unseren Anweisungen“ erhalten wir keine Auskunft. Nach etwa fünfzehn Minuten erscheint ein Kollege, der uns zu einem Flachbau mit gewelltem Kunststoffdach dirigiert. Die beiden Autos kommen in garagenähnliche Räume, das große Auspacken beginnt.
Erst versuchen Flo und ich, unsere Lage mit Humor zu nehmen. Handschuhfach ausräumen, Kofferraumklappe öffnen, die Taschen und Koffer herausnehmen und Stück für Stück entleeren, das gibt es auch an anderen Grenzen. Besonders bei Leuten wie wir, denen sämtliche Zöllner der Welt automatisch das Mitführen von Waffen, Sprengstoff oder zumindest Drogen unterstellen. Doch als verlangt wird, den Rücksitz auszubauen, die Türverkleidungen abgeschraubt werden und sogar in die Hohlräume gestochert wird, liegen die Nerven blank. Während ich das Reserverad heraushieve, entrutscht Flo die Bemerkung, ob man wirklich glauben würde, jemand könne sich darunter verstecken? Postwendend ist eine Verschärfung der Maßnahmen die Folge. Im Kommisston werden wir angewiesen, unsere persönlichen Sachen einzusammeln und zur Leibesvisitation in den Nebenraum mitzukommen. Zu unserer Erleichterung trifft es nur Flo und mich, unsere freundlichen Helfer mit dem Peugeot erhalten ihre Ausweise zurück und dürfen weiterfahren.

Der weiße A-4 Umschlag mit den Fotoabzügen hat die besondere Aufmerksamkeit unseres Freundes in Uniform geweckt. Wir sind wieder angezogen und sitzen auf abgewetzten Holzstühlen einem hageren, etwa fünfzigjährigen Mann mit Habichtgesicht und straff nach hinten gekämmten Haaren gegenüber, der sich hinter einem penibel aufgeräumten Amtsstubenschreibtisch verschanzt hat. Blatt für Blatt zieht er die Abzüge heraus, mustert sie wie hochbrisantes Geheimmaterial und legt sie wortlos zur Seite. Plötzlich elektrisiertes Aufmerken, sein Blick bleibt wie gebannt an einer der Aufnahmen hängen. Ich recke meinen Kopf so unauffällig wie möglich nach vorne - es handelt sich um ein Foto der Clara-Zetkin-Straße mit der Mauer und dem Reichstag dahinter. Er legt den leicht welligen Barytabzug zur Seite, nimmt den nächsten – wieder eine Stadtlandschaft mit Grenze, diesmal die Befestigungen an der Oberbaumbrücke von der Ostseite aus gesehen. Dann der abgesperrte Pariser Platz, der verwilderte Friedhof an der Bernauer Straße, das tote Ende der Friedrichstraße mit dem Hinweisschild zum Grenzübergang. - Bilder aus der Ost-Berliner Mauerserie, die ich in den vergangenen Monaten angefertigt habe, um die Welt jenseits der Grenze mit den Augen der dort lebenden Menschen einzufangen.
Er weist uns an, sitzen zu bleiben, steht auf und verlässt den Raum. Durch die dünne Trennwand hören wir ihn telefonieren. – Was haben sie mit uns vor? Nach endlosem Warten erscheint er in Begleitung eines Uniformierten, der sich mit Namen vorstellt: Major Meese von der Kreisstelle des Ministeriums für Staatssicherheit. Es gäbe da ein paar Fragen. Mir rutscht das Herz in die Hose. Verhör durch die Stasi, das hat uns gerade noch gefehlt! Ob uns der Mann in der Raststätte tatsächlich in eine Falle gelockt hat?
Aber es geht um die Fotos. Warum wir die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik ausspioniert hätten? Das würde auf Vorbereitungen für einen illegalen Grenzübertritt hinweisen. Und dann wie befürchtet: Kontaktaufnahme mit Bürgern der DDR, ein klarer Verstoß gegen das Transitabkommen. Dazu noch Herabwürdigung der Grenzorgane. Ob wir wüssten, welches Strafmaß uns blühen würde? Ich beteure, die Aufnahmen lediglich aus künstlerischen Beweggründen gemacht zu haben. Als mittelloser Student wäre ich gezwungen, mein geringes Budget durch Nebentätigkeiten aufzubessern. Aber der Stasi-Mann lässt nicht locker. Warum wir den Kontakt zu DDR-Bürgern gesucht, dann noch die Panne inszeniert hätten? Um die Möglichkeiten für eine Personenschleusung auszuloten?
Mir schnürt es die Kehle zusammen. Welche Mächte haben sich jetzt gegen uns verschworen? Wir können doch nicht mehr sagen, als dass wir einen Motorschaden haben. Und dass die beiden mit dem Peugeot so freundlich waren, uns abzuschleppen. Vergeblich, das Misstrauen des Offiziers scheint grenzenlos zu sein. Liegt es an unserem Äußeren? Weil wir nicht wie normale Bilderbuch-Bürger aussehen? Flos pechschwarze Locken, zu einer Afro-Frisur im Stil von Rainer Langhans aufgetürmt, und meine schulterlange Blondmähne würden bei einem Rockkonzert in der Deutschlandhalle sicherlich weniger Aufsehen erregen als hier in einer ostdeutschen Amtsstube. Dazu unsere Jacken aus US-Armeebeständen, auf denen noch die Spuren der Rangabzeichen zu erkennen sind, und die abgewetzten, mehrfach geflickten Jeans mit den klobigen Lederstiefeln. Im Westen ist man endlich so weit, Leute wie uns zu akzeptieren, aber hier stoßen wir wieder auf die alten Vorurteile.
Doch dann die überraschende Wendung. Wir würden uns doch zu den fortschrittlich gesinnten Menschen zählen und hätten den Anspruch, eine Welt ohne Ausbeutung, Armut und Krieg zu schaffen? Ob wir bereit wären, der guten Sache einen Dienst zu erweisen? Durch gelegentliche Informationen über die Aktivitäten von maoistischen und trotzkistischen Gruppen, die auch im Westen dem Klassenfeind in die Hände arbeiten würden? Im Gegenzug wäre er bereit, uns laufen zu lassen. Wir stammeln etwas von „viel zu wenig Ahnung“, versuchen ihn hinzuhalten, indem wir um Bedenkzeit bitten. Was, sehr zu unserer Verblüffung, von Erfolg gekrönt ist. Mit einer generösen Geste überreicht er uns die Papiere, bringt uns zur Tür und hilft uns sogar noch, den Wagen bis zur Kontrollstelle zurückzuschieben. Dort verabschiedet er sich mit einem markigen Händedruck. Ein Kontaktmann würde sich demnächst bei uns melden.

Taghell erleuchtete Grenzanlagen, der letzte Wachturm zieht im Zeitlupentempo an uns vorbei, gleich hinter der Brücke über die Saale werden wir von einem großflächigen Schild mit der Mitteilung begrüßt, weiter durch Deutschland zu fahren. Ewig-gestriges CSU-Getöse, trotzdem fällt mir ein Stein vom Herzen. Wir rollen im Zweiergespann hinter einem betagten, beigefarbenen Opel Rekord her, nehmen die nächste Ausfahrt in Richtung Hof. Dort soll es eine Autoverwertung geben, bei der wir einen günstigen Austauschmotor erstehen könnten. Der Typ mit den schulterlangen Locken aus Bayreuth, der sich unser an der Grenze angenommen hat, will morgen sogar beim Einbau der Maschine mithelfen.
Die Fahrt über kurvenreiche, nur wenig frequentierte Landstraßen will kein Ende nehmen. Konturlose Erhebungen zwischen gespenstisch leeren Flächen, hin und wieder ein schwach beleuchtetes Haus oder eine kleine Siedlung; wir sind eingebettet in das dunkle Nichts der Nacht, in dem nur ein paar Lichtpunkte wie die festgefrorenen Spritzer einer Wunderkerze aufschimmern. Endlich begrüßen uns die verschlafenen Lichter der Außenbezirke. Im Zentrum machen wir vor einer kleinen Pension Halt. Kein besonderer Komfort, aber unserem Budget angemessen und für eine Nacht ausreichend.
Neben mir auf dem Nachtkästchen liegt die abgegriffene Ausgabe der Bibel, darauf ein zerknitterter Zettel mit der Telefonnummer unseres Freundes aus Bayreuth. Ich höre, dass Flo bereits schläft, mir aber gehen die Bilder des Tages nicht aus dem Kopf. Das feiste Gesicht des Grenzkontrolleurs zieht wieder vor meinem inneren Auge auf, dann lässt mich der durchdringende Habichtblick der Spürnase bei der Leibesvisitation erschaudern. Ich muss an die Diskussionen in der Fachbereichs-AG denken, an die Frage, ob es einen dritten Weg jenseits von Kapitalismus und dem real existierendem Sozialismus ostdeutscher Prägung gibt? Als von draußen der unerschütterliche Anschlag der Kirchturmuhr eines nahegelegenen Gotteshauses hereindringt. Es ist bereits Mitternacht, höchste Zeit, den Tag hinter mir zu lassen! Ich strecke die Beine ein paar Mal kräftig durch, rolle mich auf die Seite und grabe das Gesicht noch tiefer im Kissen ein.

© Gottfried Schenk  2011