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Über mich: Einleitende Gedanken zur ersten literarischen Arbeit

Anläßlich einer Rezension amerikanischer Lyrik wurde einmal  geschrieben, daß ein Amerikaner, der sich daran macht, Gedichte zu schreiben, sich an Liedern und Balladen von Bob Dylan, John Lennon oder anderen Interpreten der Rock- und  Folk-Musik orientiert; ein Europäer hingegen studiert erst einmal    Philosophie. Obwohl ich nicht sagen kann, mein  Philosophiestudium - es waren ohnehin nur wenige Semester - von Anfang an auf dieses Ziel ausgerichtet zu haben, so bin ich demnach doch den klassischen europäischen Weg gegangen.
Tatsächlich bin ich sogar aus der Philosophie in die Literatur geflüchtet! Eine nicht mehr zu unterbindende Flut von Assoziationen und kritischen Reflexionen, die bei meinem anfangs so begeisterten Eindringen in die philosophische Gedankenwelt ausgelöst wurde und durch die Aneignung sprachlicher  Ausdrucksfähigkeit  zunehmend eine (gedanklich-!) sprachliche Umsetzung fand, war in den allgemeinen und abstrakten Kategorien der Philosophie einfach nicht unterzubringen. Je mehr ich meiner selbst - selbstbewußt! - bewußt wurde,  desto mehr abseits fühlte ich mich in einer Wissenschaft, in der nicht die subjektiv erfahrbare Lebenswirklichkeit den Maßstab zur Beurteilung abgab, sondern der endlose Regreß auf abstrakte Theorien und objektiv abgesichertes Schrifttum. Meine unauslöschlichen subjektiven Erfahrungen und mein authentisches Wissen zwangen mich mit Macht zum Widerspruch und zum Rückzug in die Sphäre radikaler Subjektivität.

Zweifelsohne war es für mich kein einfacher Weg und keineswegs geradlinig, ,,so weit" zu kommen. Das meine ich bewußt mit einer Doppeldeutigkeit, denn der Akt des Schreibens - nicht nur erst das Ausführen einer Niederschrift von zu literarischer Form entwickelter Gedanken - findet entfernt vom eigentlichen Leben statt, geht einher mit Einsamkeit, bedeutet Verzicht auf reales Leben (- ja, und vor die Alternative gestellt, würde ich mich jederzeit - wenn die Freiheit des Wählens gegeben wäre - für das unmittelbar kommunizierende, sinnliche, eingebundenere Leben entscheiden ...).
Deswegen ist es eine für mich immer aufs Neue bedeutende, ja entscheidende Frage, warum ich diesen einsamen und irgendwie auch oppositionellen Weg gehe, wozu ich all die Einschränkungen meiner unmittelbarer Lebensentfaltung auf mich nehme und meine Zeit nicht - eingebettet  im Strom eines gerade gängigen Verhaltens - bequem mit den populären Vergnügungen und Zeitvertreibungen verbringe? Und dabei zur Stillegung der unvermeidlichen Reibungspunkte mit der inneren  Wirklichkeit auf die allseits bekannten und erprobten ,,Drogen", Zerstreuungen, Ablenkungsstrategien und Kompensationsmittel zurückzugreife? Und auch die grundsätzliche Frage stellt sich: warum denn überhaupt noch schreiben, wo wir ohnehin in einer Flut von Publikationen ersticken, wenn niemand mehr wirklich liest, die bildhaften Medien unser tägliches Leben bestimmen, alle Wahrheiten relativ und die Sprache unglaubwürdig geworden sind?

Jeder, der sich als Schriftsteller entäußert, hat - so er etwas zu sagen  hat - auch etwas streng Verborgenes, das er mitteilen möchte. Das kann - wie in meinem Fall - einmal ein Sprechbedürfnis über eine (Gedanken-) Welt  sein, die in der Lebenssphäre, im Beruflichen wie auch im Privaten, keinen oder nur ungenügenden Austausch findet. Wenn dazu ein Fundus von ,,geheimen", bislang in keiner Kommunikationsform aussprechbaren Erfahrungen kommt, führt dies unweigerlich zu einem unerträglichen, ja unhaltbaren Zustand. Denn irgendwann kommt man zwangsläufig an den Punkt, wo man sich fragen muß, wer man wirklich ist: der nach fremdem Wissen und gängigen Mustern agierende Funktionsmensch, oder das, was man als Unbezweifelbares von innen spürt?
Eine Antwort auf die Frage, warum man schreibt, kann natürlich nur sein, daß man die Sprache, den spielerischen und schöpferischen Umgang mit ihr, liebt. Ich meine, es ist sogar so, daß man, wenn man an ihre Schönheit, Reinheit und ursprüngliche Aussagekraft glaubt, automatisch auf das Schreiben verwiesen, in einem gewissen Sinne sogar auf diese Form der Entäußerung zurückgeworfen wird. Die im gängigen Umgang miteinander gepflogene Sprache läßt, weder ästhetisch noch inhaltlich, dem genannten Bedürfnis Raum. Existiert in einem eine lebendige, nach Austausch hungernde Welt als Gegenwelt zu der umgebenden, einer als reduzierend empfundenen Realität, dann bietet literarische Sprache - so man sie sich zu seiner eigenen macht und sie in ihrem Bedeutungsgehalt das eigentlich Gemeinte trifft - das ideale Medium für eine präzise, in ihrer schriftlichen Form sich der Vergänglichkeit entgegensetzenden Entäußerung.
Doch bleibt Schreiben letztendlich nicht immer nur ein schöner, aber stummer Schrei hinaus in eine Wüste von Gleichgültigkeit und Beliebigkeit? Sind literarische Texte ,,Briefe", auf die niemals eine Antwort kommt?
Vom Inhalt her gesehen, um den es einem geht, könnten im Prinzip auch andere mediale Mitteilungsformen, wie zum Beispiel der Film, diesen Zweck erfüllen. Angesichts der Vielzahl von großartigen Lichtbildwerken besteht kein Zweifel an der Konkurrenzfähigkeit dieses Medium, das noch dazu  in seinem Herstellungsprozeß - im Gegensatz zum Schreiben - ein äußerst kommunikatives ist, da es der Kooperation von Drehbuchautor, Regisseur, Schauspielern, Kameramann  usw. bedarf.
Allerdings liegt gerade in der Komplexität des Verfahrens wieder der Grund, der das Schreiben unter den Kommunikationsmedien so einzigartig macht: Man  braucht keine Helfer, kein Kapital, keine technischen und handarbeitlichen Detailkenntnisse – also keine ,,Weltberührung"!  - um schöpferisch tätig zu sein. Nichts außer Papier, Schreibzeug und die Sprache, die man beherrscht und liebt. Nirgendwo kann die Welt so radikal und konsequent ausgeschaltet und damit so unverstellt Zugang zu den ,,Quellen" gefunden werden wie beim literarischen Schreiben.
Gegenüber den künstlerisch-bildhaften Darstellungsformen, denen ebenfalls der einsame Schöpfer- und  Herstellungsakt zugrunde liegt, bietet die verbale Mitteilungsform allerdings die unbestreitbaren  Vorzüge der Sprache. An deren ersten Stelle der präzise und  differenzierte Ausdruck des Gemeinten steht. Allerdings be-schreibt Sprache innere Bilder, Gefühle, Stimmungen und Phantasien, und muß vom Leser in solche zurückübersetzt werden. Die nicht selten gegensätzlichen Leseweisen literarischer Texte besagen, daß der Kode ein je-subkjektiver ist und nicht selten auch Abwehrhaltungen den Zugang versperren.

Wenn der Dichter denn vom Schriftsteller zu unterscheiden wäre,  würde ich mich ohne zu zögern der erstgenannten Kategorie zuordnen. Diese Selbsteinschätzung folgt vor allem meinem Bedürfnis nach Abgrenzung von Schreibweisen, die entweder von der Thematik her den Oberflächenphänomenen des Lebens zugewandt sind oder eine überstarke intellektuelle Ausprägung  besitzen, so daß sie nicht in jene Tiefenbereiche vorzudringen vermögen, die, fernab von den  Fesseln der ,,Vernunft", den Schatz von subjektiver Ursprünglichkeit und Wahrheit beherbergen. Ich möchte es auf den Nenner bringen, daß der Schriftsteller Wörter ,,denkt", der Dichter sie hingegen ,,empfindet"! Und nur um die radikale Beschreibung von authentischem Erfahrungswissen kann es mir gehen, alles gefällig-angepaßte Erzählen oder gelehrig-gebildete Explizieren erschiene mir sinnlos. Es wäre denn ,,eine Wiederholung mehr des ewigen Einerlei”(Sören Kierkegaard).
Mit Die Verweigerung habe ich einen ersten Versuch in diese Richtung  gewagt. Daß sich dieser Text besonders auf der Nachtseite des Lebens aufhält, noch dazu mit solch einer Detailgenauigkeit, mag manchem Leser einseitig erscheinen. Doch wenn Authentizität bedeutet, radikal in kollektiv abgedrängte Bereiche einer als
gespalten erfahrenen Lebenswirklichkeit eindringen zu müssen, so kommt es notwendigerweise zu solchen Einseitigkeiten. Es war ja mein Anliegen, jenseits von aller pathetischer Verklärung oder Überfrachtung mit Bildungsgut einen konkreten Fall aufzugreifen und zu schildern, in dem die hochkomplexe ,,Maschinerie" Mensch ins Stocken gerät, weil in sein hochkompliziertes Räderwerk Sand eingedrungen ist, der den ganzen Ablauf durcheinanderbringt.
Oder, moderner ausgedrückt, sein ,,Betriebssystem" dermaßen durcheinandergerät, daß es sich zunehmend mit sich selber beschäftigt und nicht mehr in der Lage ist, auf den ,,input", die Wahrnehmung von außen, mit ,,output", also einem erwartbaren Handeln, zu reagieren. Dies kann sich so weit zuspitzen, daß so einer aus diesem Zustand nicht mehr herausfindet und immer tiefer in einen Abwärtssog gerät, bis die Entwicklung im „Systemcrash” mündet.
Ich habe das mit möglichst geringer Verfremdung zu realisieren versucht und aus diesem Grund Zeit und Ort der Handlung nicht benannt, um einer allzu schnellen Festlegung und der damit einhergehenden Einengung auf eine ,,fremde" subjektive Erfahrung, die ,,niemals" die des Lesers sein  kann, vorzubeugen. Der Text wurde auch ganz bewußt als eine  Männergeschichte konzipiert, in der viele der in einem Männerleben sonst so wenig zum Ausdruck kommenden emotionalen Aspekte angesprochen werden sollen. Wie das Drama eines gescheiterten Vaterseins, weil in ihm das ,,unvergessene" Kindsein mit all seinen Begleiterscheinungen gleich einer unsäglichen Last durchgeschleppt wird. Und zu welcher Katastrophe es dann kommt, wenn das eigene Kind aus dem Leben herausgerissen wird!

Der Versuch, einen möglichst unverstellten, naiven Blick auf eine Reihe von Phänomenen unserer modernen beziehungsweise postmodernen Wirklichkeit zu werfen, konnte natürlich niemals als ein von den Erfahrungen des Autors unberührtes und abgetrenntes Vorhaben durchgeführt werden. Auch wenn der Geschichte der tragischer Vorfall einer psychotischen Verstörung zugrunde liegt, der außerhalb des persönlichen Erfahrung des Autors liegt, so kamen bei ihrer Abfassung doch Erfahrungsaspekte zum Tragen, die ein Einfühlen, ja tiefes Hineingehen ein den fremden “Fall” ermöglichten. Ich habe dabei versucht, die Vereinzelung des Individuums sowie die Rast- und Ruhelosigkeit zu beschreiben, die nicht zuletzt einer ungeheuren subjektiven Bedrängtheit durch die von den Weltabläufen vorgegeben Zeit entspringen.
Die Figur, um die es in
Die Verweigerung geht, ist die eines Träumers. Also um Jemanden, der glänzende Gedankengebäude und Phantasiegebilde produziert und ihnen nachhängt, jedoch nichts ,,Vernünftiges" zustandebringt. Für so einen ist unsere moderne, von kalter, zynischer Vernunft und einseitiger materieller Ausrichtung geprägte Welt kein angenehmer Aufenthaltsort. Er lebt, da er sich mit seinen Sehnsüchten und Wunschvorstellungen nicht aufgeben und unterordnen will, zwangsläufig im ständigen Gegensatz zu den äußeren Gegebenheiten. Die ,,Uhr" seiner Abläufe geht anders, was dazu führt, daß er sich in einem permanenten Spannungszustand mit der Welt befindet. Dies führt letztendlich zum Entschluß einer Totalverweigerung, die jedoch im Rahmen des hier Erzählten am Ende nicht zustande kommt.
Der Text ist in einer möglicherweise altmodisch anmutenden Sprache geschrieben. Ich habe die Mühe nicht gescheut, auf eine der Umgangssprache so weit wie möglich enthobene Ausdrucksform zurückzugreifen, weil es mir nur auf diese Weise möglich erschien, den notwendigen Abstand zu den  beschriebenen Phänomenen herzustellen.
Wie es überhaupt schwierig ist, ,,von der Seele her" -  und  weniger vom Verstand bestimmt -  zu  schreiben. Wo doch Sprache als solche eng mit unserem intellektuellen und vernünftigen  Wissen verknüpft ist! Eine Erzählweise, die beim Leser das entsprechende Bedürfnis, ja vielleicht sogar eine ähnliche Gestimmtheit, voraussetzt.
Denn es hängt vor allem von der Bereitschaft ab, dem Autor bei seinen Streifzügen durch den Dschungel Lebenswirklichkeit zu folgen, wenn seine Sprache verstanden und seine Inhalte vermittelbar sein sollen. Auch wenn er extreme Erfahrungen beschreibt, so sind, so meine ich, in jedem von uns genügend Grunderfahrungen vorhanden, die ein Mitgehen und Berührtwerden, ja vielleicht sogar ein Identifizieren ermöglichen. Man braucht sich nur vorzustellen, daß eine Ausnahmesituation plötzlich Dauerzustand wird,  um die Krise zu verstehen, in die meine Erzählfigur hineingeraten ist und an der er letztendlich zerbricht.

Berlin, im September 1990
Gottfried Schenk